Ich sitze im Schneidersitz auf dem zusammengeklebten Linoleumboden. Meine Hose ist viel zu steif dafür und meine Beine schlafen ein. Direkt unter mir sehe ich die Schnittkante der beiden hellbeigen Bodenstücke. Dazwischen hat sich eine dunkle Masse angesammelt. Ich habe keine Lust, die Kante anzufassen. Also starre ich sie nur still an. Gerade hat jemand von Massenentwürdigung gesprochen. Sie müsse geheilt werden. Bei der Heilung der Masse wird mir ein bisschen übel. Der kleine Raum ist sehr voll. In der ersten Reihe des Kreises sitzen die Frühkommer auf gepostlerten dunkelblauen Stühlen, die auf einer kleinen Sackkarre kurzerhand herangebracht wurde. In der zweiten, inneren Reihe sitzen die Spätkommer auf dem Boden. Sie haben sich, wie ich, auf ihre Jacke gesetzt oder aber ein Kissen abgegriffen, Gott weiß woher sie das haben. Ich frage mich, ob jemand tatsächlich so weit gehen würde, bereits damit zu rechnen auf dem Boden zu sitzen oder sogar bewusst zu spät kommt um anderen die Stühle zu überlassen und dann auch noch ein Kissen vom Wohnzimmersofa mitzubringen. Jemand sagt, wie traurig es ist, dass der Gutmensch zum Schimpfwort geworden ist.
Die Maintreamberichtserfahrung im Fernsehen, sagt jemand. Ich denke über den Ausdruck Berichts-Erfahrung nach. Der Versprecher kommt mir so passend vor. Das Berichtete wird nicht allein gehört, sondern mit dem gesamten Leib erfahren. Die Frustration, der Ärger, die Empörung, die Wut, die sich irgendwo in der Bauchgegend absetzt und drückend schwer wird, so schwer, dass ich mir ein Kissen mitbringe, wenn ich Gefahr laufe auf dem Boden der Tatsachen zu sitzen.
Dann spricht jemand von Motivation im Beruf, von dem Wunsch nach einer ethischen Unternehmenskultur. Es geht um Respekt, Bescheidenheit, Authentizität und die Herausforderung der Zusammenarbeit in einer Welt der digitalen Revolution. Wie kann es gelingen, dass Business weniger rücksichtslos geführt wird? Ich versuche die Beine auszustrecken in der kleinen Nische, in die ich mich gesetzt habe zwischen zwei Stühlen und einer jungen Frau, die vor mir sitzt.
Schulformen sei ein Thema. In welcher Welt will ich leben? In welcher Welt sollen meine Kinder leben? Ich bin gerade Vater, Mutter, Großmutter geworden. Meine Kinder sind bereits verheiratet, aber ich habe immer unter dem System der Schule gelitten. Respektvolle Erziehung. Die Chancen der Arbeiterkinder. Die Moderatorin, die zwei Brillen übereinander zieht um ein Zitat aus buddhistischen Lehren zum Thema Kohärenz vorzulesen und Kurse gibt, in dem es darum geht, sich gehalten zu fühlen, erzählt von dem Vorbild einer Schülerinitiative. Die Kinder würden unter dem Slogan „Die Welt retten“ aktiv. Ich beginne an den Bändeln meiner dunkelblauen Bluse zu fummeln. Ich denke über Ziele und Pragmatismus nach und erinnere mich an eine Formulierung, die ich kürzlich in einem Magierzirkel kennen gelernt habe. Sie lautete „Kein guter Mensch zu werden ist das Ziel, sondern Gott.“
Umweltschutz, der Schutz der Pflanzen, die Parkanlagen, der unendlich heiße Sommer und der Klimawandel. Umwelt und Politik. Und ich denke an Bruno Latour und den Anthropozän. Ich kann mir nicht helfen, ich werde innerlich unruhig. Mein anthropologischer Blick hat einen Black-Out. Ich will aufstehen und laut rufen: Ja genau, verdammt nochmal!! Ich lache über mich selbst. Wie mir das eine schlichtweg illusionär vorkommt und das andere mein Gemüt zum kochen bringt, allein wenn ich daran denke. Ich bin ein Teil hiervon, kommt es mir jetzt. Ich sitze hier drin, ob ich es will oder nicht, ob ich mich verbunden oder entbunden fühle. Ich bin Teil dieser Debatte um Würde und Werte.
Einer spricht von gut und böse. Dass wir uns darauf einigen müssen, was unsere Würde und Werte sind. Es bräuchte hier Antworten. Sonst würden wir ja gar nichts bewegen, uns nie als Eins fühlen. Ich fühle den Widerstand in mir aufsteigen. Mein Körper wird immer schwerer und versteinerter und ich wundere mich darüber, nach all der desensibilisierenden Massenberichtserfahrung. Einer sagt, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. „Me too hätte es früher nicht gegeben.“ Ich schlucke bitter. Dann sagt er zu meiner großen Überraschung: „Und darauf können wir richtig stolz sein! Weiter so!“ Die Gutmenschen überraschen mich immer wieder, denke ich und schenke dem Mann ein Lächeln, dass rar in meinem Gesicht zu finden ist, dieser Tage. Der Populismus kotzt mich an, sagt jemand anderes. Ich bin nicht alleine, denke ich jetzt und strecke den Rücken durch. Ich höre das Knacken meiner Wirbel.
Was bedeutet Würde im Alltag? Wie erlebe ich meine eigene Würde? „Wie kann ich meine verletzte Würde wieder heilen?“ „Gerald Hüter sagt aber, Würde ist unverletzlich, wenn du sie wirklich erkannt hast!“ Wann habt ihr den Peak-Moment eurer Würde erlebt? Ich wundere mich: Ist Würde ein Prozess? Eine Menge, die wachsen und schwinden kann? Was ist Würde überhaupt? In diesem Raum schwingt so viel Diskurs, dass die Luft dünn wird.
Ich bin auch irgendwann dran. Ich sage, dass ich mich mit dem Thema Diversity beschäftige. Dass es um Vielfalt und Unterschiedlichkeit geht. Und dann bemerke ich, dass Würde ein Begriff ist, der sich nicht selbst erklärt und der auf der Welt sehr unterschiedlich verstanden wird. Ich sage, dass ich gespannt bin, wie er hier verstanden wird.
Was ich nicht sage, aus Feigheit, Faulheit oder Höflichkeit, ist dass Würde für mich eine Frage der Freiheit ist. Dass es für mich darum geht, genau nicht eine Würde zurecht zu schneidern, die jeder dann zu tragen hat. Wenn Würde aus den Fäden von Wertvorstellungen gewebt wird, müsste sich dieses Kleid doch anders anfühlen dürfen, für jeden einzelnen, der es sich überzieht. Ein Kleid, dass wir in dieser Runde für alle Menschen weben würden, wie ein Gott für Joseph in der biblischen Literatur, wäre vielleicht tauglich für den europäischen Sommer. Aber passt es auch in den sibirischen Winter? Oder den indischen Monsun? Und wir leben längst in einem Land, in dem all diese Wetterlagen zusammenkommen. Dem einen würde dieses Kleid wie ein leichtes, seidenes Tuch sein, dem anderen wie das Goldene Vlies und dem nächsten wie eine steinerne Platte.
Und ich stelle kurze Zeit später fest, dass, oh Wunder, auch in diesem kleinen Raum voller engagierter, passionierter Würdebürger der Begriff Würde und die Idee von Werten bunt sind wie die Farben auf Josephs Kleid. Unter den Lehrern, Pädagogen, Juristen, Psychologen, Großeltern, Unternehmern, Politikern, Medizinern, Künstlern, Dozenten, Hochschulreferenten und Umweltaktivisten besteht eine Pluralität von Werten. Es sind, so stelle ich rückblickend fest, vielleicht die wichtigsten Personen in unserer Gesellschaft, denn sie sind alle in einer Form einflussnehmend, sei es in der Bildung, im Recht, in der Erziehung, der Politik, der Wahrnehmung und so weiter. Sie haben die größte Macht: die Diskursmacht auf die nächste Generation. Die wahren Herrscher sind nicht die Könige, sondern die Pädagogen, überlege ich.
Und noch dazu haben sie die Bereitschaft, sich an einem Montagabend auf dem Linoleumboden eines winzigen wohnzimmerähnlichen Raums sitzend aktiv und kritisch mit dem Begriff der Würde und den Möglichkeiten des bürgerlichen Engagements zu beschäftigen. Das hier, denke ich heute, sind die Menschen, die möglicherweise tatsächlich einen Unterschied machen können. Wahnsinn, dass ich dabei war. Ich frage mich, wie ich dazu kommen konnte. Wieviel Politik steckt in meiner Wissenschaft? Wieviel Diskurs gestalte ich mit, obwohl ich doch von dem heiligen Professor an der Uni eingebläut bekommen habe, artig im Elfenbeinturm zu bleiben, von wo aus wir so gut beobachten und so schlecht eingreifen können?
Auf dem Heimweg denke ich noch weiter nach, über den Begriff der Würde und über Werte. Ich tippe auf meinem Handy rum, eine fürchterliche Angewohnheit, die mit mir verwachsen ist wie die Bierflasche mit der Alkoholikerin. Ich sehe in meine Nachrichten, die ich den Tag über durch unsere Welt hin und her schicke. Eine davon ging an einen Freund, über den ich mich geärgert habe, weil er nicht meine Erwartungen erfüllt. Ich seufze tief und schalte mit der Selbsterkenntnis meines eigenen Egoismus das Handy aus.
Was heißt es, jemanden würdevoll zu behandeln? Wohin könnte ein Würdekompass zeigen, wenn ich nach Rat oder Orientierung suche? Wenn ich es auf das Banalste runterkürze, wage ich meine eigene Hypothese, während ich durch den dichten Nebel der Nacht nach Hause fahre, geht es doch einfach nur darum, kein Arschloch zu sein.
Das allein ist das komplexeste Problem, über das ich jemals nachgedacht habe.