Oder: Über den Wunsch zu Sterben
„Derjenige, der sich auf die rechte Art mit der Philosophie befasst, hat kein anderes Ziel, als zu sterben und tot zu sein.“ (Phaidon, 64 a).
Was heißt es, als ein Mensch zu leben? Platon war der Meinung, es heißt, den Widrigkeiten eines Körpers ausgesetzt zu sein in einer Welt, die aus roher, unbelebter und unedler Materie besteht. Aber es heiße auch, eine unsterbliche, heilige Seele zu haben, die unteilbar, ewig und göttlich sei (Platons Gottesvorstellung ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem christlichen Gott). Seine Trennung des Menschen in Körper (Soma) und Seele oder Geist (Psyche) ist ein anthropologischer Entwurf, der sich seit der griechischen Antike durch religiöse Entwürfe, kulturelle Epochen und ein weit verbreitetes Verständnis von zivilisierten Gesellschaft zieht. Mit anderen Worten: Platon hat einen wahren Hit gelandet!
Knotenpunkt dieser Idee ist die Aufwertung von allem, was das Denken, Vernunft, Intellekt und die Vorstellung eines Wesenskerns namens Seele betrifft, bei der gleichzeitigen Abwertung von allem, was den Menschen als Tier enttarnt: körperliche Bedürfnisse, Triebe und Neigungen wie Essen, Schlafen, Verdauung, Sex, Hygiene, Menstruation, Bewegung, Gestaltung und Sichtbarkeit des Körpers, Gewalt, Sterben, Zärtlichkeit, die Vergänglichkeit und Verletzbarkeit des Körpers, die ungenauen und wechselhaften Sinneseindrücke, etc. Sterben, das heißt für Platon die Befreiung der Seele aus ihrer fleischlich-dummen, tauben, Mangelware namens Körper. Lebendigkeit im Umkehrschluss ist eine Bürde, die es mit Anstand und Tapferkeit zu tragen und alsbald im gereinigten Zustand abzuwerfen gilt. Mensch-sein bedeutet in einem Körper „gefangen“ lebendig-sein und damit klarkommen zu müssen. Gleichzeitig gilt die geistige oder seelische Arbeit als vernünftig, ernsthaft und bekommt im Zuge dessen Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit.
Platon kennt einen Weg hier heraus, der in eine ähnliche Richtung von vielen Verfechtern eines dualistischen Weltbild verfolgt wird (so heißt dieser Entwurf nämlich: Dualismus). Dieser Weg heißt Selbstbeherrschung. Dieses Ideal ist der Fixpunkt des Dualismus: etwas ist überlegen, gut, sitzt oben auf und beherrscht das was unten ist, unterlegen, schlecht, das besiegt, unterworfen und überkommen werden muss. Etwas ist hell, rein, richtig, göttlich, etwas anderes ist dunkel, unrein, falsch und teuflisch (oder je nach Ausführung demiurgisch, sündhaft, dumm, irreführend, verwerflich, unmoralisch, etc.). Die Realisierung von Selbstbeherrschung wird unterstützt durch Strukturen wie religiöse Gebote, rechtliche Gesetzestexte, soziale Norm oder kulturelle Tabus.
Im Fall des Soma-Psyche Dualismus heißt das: Mein bewusster Teil namens Psyche lernt meinen atmenden, durchbluteten, begierigen und triebhaften Teil namens Körper zu beherrschen. Es sind im Laufe der Zeit viele Spielarten dieser Geschichte der Gegenteil-Paare entstanden (Natur-Kultur, Mann-Frau, Heilig-Profan, Ordnung-Unordnung, Gott-Teufel, Superheldin-Bösewichtin, etc.). Immer wieder werden die beiden Seiten zueinander in Beziehung gesetzt, und immer wieder ist es die Beherrschung des einen über das andere, worin die Lösung zu liegen scheint.
Interessant ist die Beobachtung von Platon, die eingangs zitiert wurde: Wenn diese Beherrschung erreicht wird, und ein Anteil den anderen völlig überkommen hat, ist das Ergebnis der Tod / der Stillstand / das Ende. Der Dualismus bei Platon ist eine Erzählung über das Menschsein, welche sich selbst gerne auserzählen würde. Die Welt und den Menschen in zwei zu teilen und eins davon abschneiden zu wollen, tötet sich selbst ab, wenn es an sein Ziel gelangt.
So gesehen ist der Dualismus eine fast schon sarkastische, mindestens aber eine ironische Geschichte über das Leben als Mensch. Eigentlich ist es mehr eine Geschichte über das Sterben.
Literatur: Wolfgang Pleger 2018: „Handbuch für Anthropologie“, Heppenheim: wbg Academic, S. 55-74 (Dualistische Konzepte).