Ein Aufruf, sich zu schämen.
Im Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie wird Scham beschrieben als die „Scheu vor der Entblößung des körperlichen oder seelischen Intimbereichs“. Diese Scheu sei „stark von jeweiligen soziokulturellen Bedingungen abhängig“ und kann gesteigert oder gemindert werden, etwa durch geistige oder bio-psychologische Einflüssen (Neurosen, Drogen, ebenso wie Jugendlichkeit). (Vgl. Peters 1977: 459).
Das Lexikon zur Soziologie erklärt Scham als Bewusstsein „die Erwartungen anderer Personen, richtige soziale Normen und Werte usw. in einer Weise verletzt zu haben, daß Mißbilligung [sic!] und der Verlust von Ansehen und Wertschätzung von seiten der für das Individuum bedeutsamen Bezugsgruppen und -personen zu erwarten sind“. Dieses Bewusstsein mache Angst, so die Definition von Scham (Vgl. Klima 1994: 578).
Während die medizinisch-psychologische Perspektive Scham als die Scheu etwas Intimes herzuzeigen und die persönlichen Grenzen zwischen Nähe und Distanz anspricht, zeigt die Soziologie auf die soziale Dimension: wie werden mich andere bewerten, wenn sie erst sehen oder erkennen, was ich getan habe oder was ich bin? Aus Systemischer Perspektive, die sowohl das Individuum als auch das Umfeld in den Blick nimmt, ist Scham eine spannende Angelegenheit, weil er so doppelt „funktioniert“. Ich möchte noch die kulturwissenschaftliche Perspektive hinzu nehmen, die wie ich finde, zur Systemik dazu gehört:
Scham ist eng mit dem Tabu verbunden, den häufig unausgesprochenen Regeln, die keine juristischen Gesetze beschreiben, sondern die Ordnung der Gruppen bestimmt – so macht man das. Und so macht man das nicht. In der ursprünglichen Bedeutung beschreibt das Tabu die verbotene, nicht-zugängliche Seite von etwas Heiligem. Das Tabu des heilige Berges Uluru verbietet nicht grundsätzlich den Zugang, sondern verbietet den Zugang denjenigen, die nicht das legitime Recht auf Zutritt haben, zum Beispiel weil sie religiöse Spezialisten sind, dorthin zu gehen (unter Androhung von spirituellen oder sozialen Strafen). Das arabische Wort haram heißt auf Deutsch übersetzt so viel wie verboten. Verboten ist das semantisch zugehörige Harem aber nur für diejenigen, die nicht die Legitimation haben, dort zu sein.
Wenn wir all diese Ansätze zusammen denken, was bedeutet es für uns, wenn wir uns schämen? Zunächst ist dieses Gefühl wie eine Messnadel der sozialen Korrektheit. Wenn sie ausschlägt, haben wir offenbar eine Grenze überschritten. Dass wir uns schämen ist wie das Indiz einer verinnerlichten sozialen Regel: das ist haram, tabu, geheim, enttäuschend, zu nah oder zu weit weg, unangepasst. Die Fähigkeit, Scham zu empfinden ist eine soziale. Sie funktioniert regulierend. Ohne dass eine Person darauf hinweist, können wir die Norm fühlen, weil wir sie überschritten haben.
Umgekehrt können wir anhand der Intensität unseres Gefühls von Scham quasi nachmessen, wie heilig uns die Norm ist, die wir überschritten haben. Je mehr wir Scham gegenüber einer Angelegenheit empfinden, desto klarer wird: Hier haben wir eine Regel oder einen Anspruch, eine Idee von „Normal“ verinnerlicht. Hier akzeptieren wir die Ordnung der Dinge, wie wir sie gelernt haben. Wir dürfen uns als aufgeklärte, reflektierende und kritische Subjekte fragen: Was da ganz unbewusst abläuft, entspricht das eigentlich auf der bewussten Ebene meiner Meinung? Wir können anhand des Gefühls von Scham einen Reality-Check vornehmen: Was wäre mir peinlich? Und was liegt für eine Überzeugung, ein Wert, eine Norm dahinter?
Es gibt Dinge, die mir, wie ich finde, zurecht peinlich sind, etwa wenn ich dabei gesehen würde meinen Plastikmüll einfach fallen zu lassen oder wenn ich schlecht über jemanden gesprochen hätte und das an anderer Stelle wieder auftauchen würde. Die dahinter liegenden Normen sind mir auch auf der bewussten Ebene „heilig“. Ich finde es also auch nach einer Überprüfung in Ordnung, sich dafür zu schämen und das Gefühl erfüllt hier seine sehr wichtige Regulationsfunktion.
Es gibt andere Dinge, bei denen ich richtig wütend werde, wenn ich darüber nachdenke mich dafür zu schämen. Eins davon hängt mit Körperlichkeit zusammen. Der erste Beitrag oben benennt die Scheu vor der körperlichen Entblößung. Die dahinter liegenden Normen und Annahmen sind so tief verwurzelt, dass es sozial akzeptiert ist und mit peinlich berührter Dankbarkeit angenommen wird, auf das Sichtbar-Werden des Körpers aufmerksam zu machen. Es wird mit Scham begleitet, wenn „zu viel“ oder „zu wenig“ zu sehen ist.
In diesen Fällen würde ich mir wünschen, dass wir das unfreiwillige Gefühl der Scham aushalten und uns davon nicht beeindrucken lassen. Genauso wie die Angst kann die Scham eine Funktion erfüllen, die hilft, oder eine Disfunktion einnehmen, die blockiert. In beiden Fällen ist es Sartres Freiheit, die uns da raus hilft: Wir fühlen Angst oder Scham, weil wir soziale Subjekte sind. Das ist eine Tatsache, aber noch keine Rechtfertigung für ein Verhalten. Wir dürfen uns trauen, diese Gefühle zu hinterfragen und unseren Standpunkt dort zu finden. Bewusst das zu tun, was peinlich ist, trainiert den Muskel des Mutes, ebenso wie des Selbstvertrauens in die eigenen Werte und die Aufrichtigkeit in sich selbst.
Deshalb der Aufruf: Betreib dein eigenes Qualitätsmanagement, und schäm dich. Und dann, halte das ein, wenn es dir heilig ist oder halte das aus, damit du es loswerden kannst.
Literatur:
Peters, Uwe Henrik (1977): Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzberg.
Klima, Rolf (1994): Scham. In: Fuchs-Heinritz, Werner et al (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag: 578.