Mal Dienerin, mal Herrscherin
Was und wie ist der Mensch? Kommen wir heute zu einer der populärsten Erzählungen zu dieser Frage: der christlichen. Die Erzählung über den Menschen als das Geschöpf Gottes ist nicht nur sehr bekannt, sondern scheinbar auch sehr beliebt. Statistisch gesehen ist das Christentum heute die weltweit größte Religionszugehörigkeit.
Kaum bekannt wiederum ist die Tatsache, dass es nicht einen christlichen Schöpfungsmythos gibt, sondern zwei. Wenn auch die grobe Erzählstruktur dieselbe ist (Gott erschafft die Welt in sieben Tagen, darunter auch den Menschen), könnten die beiden Texte in ihrer Perspektive auf die Natur des Menschen nicht größer nicht sein.
Während der eine Text, bezeichnet als der Jahwist, den Menschen als Sünder zeichnet, der aufgrund von Ungehorsam aus dem Paradies geschickt wird, zeichnet der andere Text, Priesterschrift genannt, den Menschen als das Ebenbild Gottes. Einmal ist der Mensch (aufgrund der Erbsünde) ein von Geburt an jämmerliches Geschöpf, gestraft mit harter Arbeit, körperlichen Mängeln und Schmerzen. Das andere Mal ist der Mensch in der Analogie zu Gott eine herrliche Kreatur im wahrsten Sinne: vom allerhöchsten Herrscher, dem absolut Guten und Vollkommenen erschaffen und beauftragt wiederum selbst Herrscher:in über die Welt zu sein.
Ebenso ist die Aufgaben- und Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern in beiden Texten unterschiedlich. Im Jahwist Text ist die Frau, geformt aus einer Rippe des Mannes, erschaffen worden als seine Dienerin, weil es unter den Tieren kein adäquates Alternative zu finden war. Die Aufgabenverteilung der Geschlechter ist ihre Strafe für den Sündenfall: Der Mann hat zu arbeiten, um Nahrung heranzuschaffen. Die Frau hat zu gebären.
In der Priesterschrift hingegen sind Mann und Frau gleichen Ursprungs: aus einem Erdklumpen, in dem Gott das Leben hineingeblasen hat. Es wäre sicher zu viel des Guten, diesem Text eine Gleichstellung der Geschlechter zu unterstellen. Aber was daraus zu lesen ist, ist ein gleichwertiger Ursprung von Mann und Frau. Auch was die Aufgaben- und Rollenverteilung betrifft, sieht die Priesterschrift etwas anderes vor: Die Herrschaft über die Welt, der sich Mann und Frau gemeinsam annehmen. Sie bekommen den gemeinsamen Auftrag, sich zu vermehren, weil sie in der Analogie zu Gott schöpferisch werden.
Aus der Makro-Perspektive müssten wir also davon ausgehen, dass 2,26 Milliarden Menschen diese Geschichte(n) kennen und teilen. In der Mikro-Perspektive können wir davon ausgehen, dass ein Label „Christ:in“ im Pass oder ein Besuch in der Kirche noch keinen Glauben ausmachen, und anders herum der Glaube an eine Kosmologie Menschen nicht davon abhält, ihre Überzeugung mit Anekdoten aus anderen Universen auszuschmücken. Wenn das fertig ist, nennt es die Religionsgeschichtsschreibung zum Beispiel Eklektizismus: das selbstständige Kombinieren von Teilaspekten unterschiedlicher Einheiten.
So auch das Christentum: Beide Texte über den Schöpfungsmythos sind verfügbar, beide sind Teil des offiziellen Kanons. Manche Christ:innen (und darunter religiöse Autoritäten) lesen die beiden Texte als zwei Entwürfe, andere (wie der sogenannte Redaktor Text) versuchen beide Texte zu harmonisieren und einen großen daraus zu machen. Und ebenso ist es zu beobachten, dass Christ:innen auf der ganzen Welt einmal diese und einmal jene Erzählelemente fokussieren, wenn sie ein Argument machen wollen. Eklektizismus bedeutet, dass wir kuratieren, gestalten, eine Auswahl treffen.
Damit ist ein weiterer Punkt der Anthropologie aufgedeckt:
Sie ist zielorientiert. Sie bringt Möglichkeiten und Unmöglichkeiten hervor und gestaltet somit die Lebenswirklichkeit. Je nach Anliegen suchen Menschen, in diesem Fall Christ:innen, die Mythen heraus, die gerade stimmig mit der eigenen Einschätzung sind. Es hat enorme lebenspragmatische Implikationen, sündhaft oder gottesgleich zu sein, Dienerin oder Herrscherin zu sein, noch dazu, wenn dies von der allerhöchsten Stelle legitimiert wird (von niemanden weniger als dem einen Gott). Geschichten, und darunter auch die christliche Anthropologie, werden zu politischen Lebenswirklichkeiten. Sie gestalten was dann gültig für unser Leben ist.
Literatur: Wolfgang Pleger 2018: „Handbuch für Anthropologie“, Heppenheim: wbg Academic, S. 35-54 (Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept).