Anthropologie ist die Lehre über den Menschen. Sie beschäftigt sich in etwa mit den Fragen, was der Mensch ist, wieso, wie und woher er kommt. Weil diese Lehre zwangsläufig von Menschen selbst stammt, ist es genau genommen eine Geschichte der Selbstreflexion, und indes eine Geschichte der Selbstkreation. Und wenn ich Geschichte schreibe, dann meine ich eine Anreihung von Storys. In der therapeutischen Schule der Systemik wird immer wieder betont, der entscheidende Faktor über Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit, Gelingen oder Scheitern sei, welche Geschichte wir uns über das erzählen, was wir meinen beobachtet zu haben. Ob der Mensch also eine göttliche Kreation, eine biologische Evolution, seinen Mitmenschen ein Wolf, einer mit Werkzeugen oder ein spätmodernes Individuum ist, das ist vor allem eins: eine Frage des Plots. Anthropologie ist so gesehen die Disziplin des Storytellings und ihr Aufkommen müsste bei den ersten Erzählungen am Lagerfeuer verortet werden. Und selbst die Sache mit dem Lagerfeuer ist ein sehr romantischer, vielleicht kindlich-sehnsüchtiger anthropologischer Entwurf mit einem patriarchalen Einschlag.
Manchmal halte ich es für lohnenswert mir vorzustellen, wie solche Entwürfe entstanden sind. Ich stelle mir zwei Menschen im Zeitalter der frühen Moderne vor, etwa im 19. Jahrhundert. Wahrscheinlich zwei weiße Männer der gebildeten bürgerlichen Oberschicht mit Gehröcken und absurder Bartmode. Diese zwei, ich denke es sollten zwei sein weil es anstrengender ist, sich Monologe vorzustellen, jedenfalls diese zwei sitzen eines schönen Abends als das elektrische nächtliche Licht noch rar gesät war unter dem hellen Sternenhimmel an einem Feuer beim Sommerhaus des einen, irgendwo in Frankreich und ich finde es könnte nach Lavendel riechen. Diese zwei also, ich nenne sie Luc und Jean, erlauben sich in der Dunkelheit der Nacht, den obersten Knopf ihrer steifen Kleidung zu lösen und kommen sich dabei frivol und archaisch vor. Sie meinen sie erleben in dem Moment das Ursprünglichste, das Wahrste und Innigste Gefühl des Menschseins überhaupt. In diesem Moment der Karthasis sagt Jean zu seinem Sekretär Luc: „Mon ami, das hier ist der Ursprung der Menschheit.“ Jean der zufällig Archäologe ist, hat Zugriff auf alles, was es nun noch braucht, um diese Geschichte zu manifestieren: Nicht nachvollziehbare mysteriös alte Objekte, die er in Höhlen ausgegraben hat (in etwa fauliges Holz in Harz eingetrocknet, danke Jurassic Park an dieser Stelle), eine romantische Ader, Einfluss und Geld, eine Frau, die seine Geschichte korrekturliest und ihm empfiehlt, noch das Geschichtenerzählen als die bevorzugte Tätigkeit der ersten Menschen hinzuzufügen und die für beide Tätigkeiten niemals schriftlich erwähnt wird.
Dass in dieser Lagerfeuer-Romantik der ersten Menschen der Frau das Sammeln von Obst und dem Mann das Jagen von Wild zugestanden wird, liegt einfach daran, dass Jeans Frau Charlotte den Tag über Himbeeren aus der Hecke gezupft hat, um sie ihrem Mann in einem kleinen Körbchen mit handbestickten (natürlich handbestickt, denn es gibt noch keine Massentextil-Industrie), also in einem mit handbestickten Leinen ausgelegten Körbchen zu präsentiert. Dies erscheint Jean so selbstverständlich wie naturgemäß. Währenddessen flucht Luc so übel, wie es der französische Anstand zulässt, über die Lästigkeit seines Lebens in einem menschlichen Körper, weil er sich beim aristokratisch anmutenden Jagen den Rücken gezerrt hat, eine Tätigkeit der er nachgeht um seinen sozialen Stand abzusichern, der von Geburt aus etwas niedriger ist, als es ihm lieb wäre. Der einzige wahre Grund für diese Rückenzerrung ist, dass er sich sonst zu wenig bewegt und stattdessen nur die Bücher von Jean durch dessen ausladende Bibliothek trägt. Jean, der Luc zum Jagen mitgenommen hat und den nun ein schlechtes Gewissen plagt, findet diese Jagdverletzung muss bedeutsam sein, um nicht zu sagen, es muss der schmerzvolle Preis des Menschseins als Mann sein. Diese Geschichte beruhigt sie alle: Jean der Himbeeren bekommt, Charlotte, die sich die Dornen aus den Fingern zieht und Luc, der eigentlich sieben Pfund abnehmen müsste. Die Geschichte über die ersten Menschen, wie sie in Höhlen am Feuer sitzen, nach dem die Männer von der Jagd zurück gekommen sind und die Frauen die Höhle hübsch hergerichtet haben und Beeren gepflückt, zeugt mehr von einem Spiegelbild der Zeit, in dem sie aufgeschrieben wurde, als von einer tatsächlichen Abbildung von Steinzeitmenschen. Und sie hält sich, bis in der Spätmoderne eine Frau beweisen kann, dass es niemals eine funktionale Geschlechteraufteilung in Jagen und Sammeln unter unseren ersten Artgenossen gab.
Natürlich war das gerade frei erfunden, aber das Schöne daran ist, dass es ebenso gelaufen sein könnte. Die Anthropologie ist so gesehen die Disziplin, die mit dem Geschichtenerzählen geboren wurde und da ist es kaum erstaunlich, dass der deutschen Professor für Philosophie Wolfgang Pleger seine Reise durch die Anthropologie im „Handbuch für Anthropologie“ ausgerechnet mit Homer beginnt, dem Godfather of Storytelling der griechischen Antike.
Literatur: Wolfgang Pleger (2018): „Handbuch für Anthropologie“, Heppenheim: wbg Academic, S.11-17 Einleitung
Titelbild: Im Garten, 1895 Claude Monet