In der Forschung zu gegenwärtiger Magie und Esoterik kursiert ein Begriff, der aus der Chaosmagie stammt, aber seine jetzige Bedeutung von dem britischen Religionswissenschaftler Christopher Partridge hat. Dieser Begriff lautet Occulture und ist eine Wortneuschöpfung aus den Begriffen Occult und Culture. Gemeint ist damit (heute) folgendes: Okkultismus als vormals geheimes Wissen und Praxis in der „Dunkelheit“ wird als Kulturgut sichtbar und, wie Partridge es sagt, dadurch alltäglich. Wie passiert das?
Historisch lässt sich das so erklären, dass viele okkult arbeitende Personen Kunst geschaffen und diese Kunst öffentlich zugänglich gemacht haben. Beispielsweise haben die britischen Chaosmagier der T.O.P.Y. Gruppe in den 70ern Filme, bildende Kunst und Fiction produziert, in der ihre magischen Ideen für eine nicht-initiierte Öffentlichkeit zugänglich wurden. Diese Kunst haben sie Occulture (Occult + Culture) genannt. Wenn wir uns den Culture-Teil dieser Wortschöpfung anschauen, können wir uns fragen, welchen Kulturbegriff sie damit meinen. Was ist Culture? Diese Debatte ist uralt und lässt sich im Groben folgendermaßen zusammenfassen:
- Kultur als Kultivierung von Boden im landwirtschaftlichen Sinne (wo das Wort auch herkommt)
- Kultur als die „Hochkultur“, die sich zum Beispiel in den Fine Arts ausdrückt (enger Kulturbegriff)
- Kultur als alles, was eine Gesellschaft hervorbringt, sei es Sprache, Regeln, Geschichten, Vorstellungen, Gewohnheiten, Ästhetik oder die politische Struktur (weiter Kulturbegriff)
T.O.P.Y. haben mit Occulture vor allem die von ihnen geschaffene Kunst gemeint und nutzen somit also den engeren Kulturbegriff. Auch wenn sie den Begriff erfunden haben, gab es schon vorher die Form von Kunst, die magische Inhalte transportieren sollte. Bereits einige Dekaden zuvor (1917) hat der der berühmte Okkultist Aleister Crowley hat mit seinem breit rezipierten Roman „Moonchild“ ein fiktionales Werkt geschaffen, indem er seine Ideen durch die Geschichte hindurch teilt und auch die Praktiken beschreibt, die in seiner ersten magischen Gruppe namens Hermetic Order oft he Golden Dawn gängig waren. Das war auch deshalb ein schlauer Schachzug, weil es den Mitgliedern verboten war, über die Internas der Gruppe öffentlich zu sprechen. Aber Kunst ist Kunst. Oder wie es der Musiker Kosho in einem seiner Songs ausgedrückt hat: „This is poetry and everything is allowed.“ Ob das historisch so korrekt ist wie es dargestellt wird, ist in beiden Fällen eine ganz andere Frage. Interessant ist, dass wir hier zwei Beispiele von Produzent*innen haben, die ihre magischen Ideen via Pulp Fiction und moderne Medienformate öffentlich verfügbar gemacht haben. In vielen Fällen wurden diese Inhalte nicht als „containing magic“ markiert. Dennoch werden die Ideen innerhalb dieser Medien von Magiern und Hexen der Gegenwart rezipiert, zitiert und in der magischen Arbeit umgesetzt.
Um ein Beispiel aus meiner eigenen Feldforschung anzuführen: Die Theosophin Dione Fortune veröffentlichte 1939 ihren Roman „Moon Magic“, ein Roman, der literarisch irgendwo zwischen Fiction und Fantasy einzuordnen ist. Die Protagonistin der Geschichte spricht unter anderem diverse „Magic spells“, die noch heute von magisch arbeitenden Akteur*innen in ihre Ritualarbeit eingebaut werden. Als ich im Juni 2019 im Rahmen der Magickal Women Conference bei einer Führung durch das British Museum in London dabei war, endete die Führung mit einem gemeinsamen Ritual auf dem Vorhof des Museums (ja, in der absoluten Öffentlichkeit) mit einem gemeinsamen Ritual. Die Teilnehmer*innen der Führung griffen sich an den Händen und mit geschlossenen Augen wurden eben jene (Fiction-)Zeilen rezitiert, um damit die „große Göttin“ anzurufen und zu ehren. Mir wurde empfohlen „Moon Magic“ unbedingt zu kaufen. Aber wenn möglich solle ich die Hardcover Version erwerben, denn in der Softcover Neuauflage seien wertvolle Abschnitte rausgekürzt worden – in einem magischen Buch, wie der Roman von den Magier*innen und Hexen gelesen wird, eine Ungeheuerlichkeit!
Soweit, so magisch.
Jetzt verwendet die akademische Religionsforschung diesen Begriff Occulture etwas anders. Zum einen beziehen sie sich auf andere Medien. Die bisher angeführten Beispielen wurden von Magier*innen und Hexen produziert. Die gegenwärtige Wissenschaft hingegen benutzt den Begriff für alle modernen Medien, die entweder explizit Magie verhandeln oder sonstige Vorstellungen ihrem Publikum präsentieren, welche von Magier*innen heute in ihre Arbeit einbezogen werden. Die Rollenverteilung von Produzenten und Rezipienten hat sich also gewandelt. Es ist jetzt sowohl denkbar, dass Occulture von Magier*innen als auch von Nicht-Magier*innen hergestellt wird und ebenso rezipiert wird. Mit anderen Worten: Occulture meint heute Popkultur, die sich mit Magie beschäftigt und zumeist als Fantasy / Fiction gerahmt ist: Bücher, Serien, Filme, Comics, Videospiele, Podcasts, Online-Foren, Soziale Medien, etc.
Durch diese Medien werden sogenannte okkulte Inhalte (in meiner Forschung handelt es sich ganz konkret um praktische Magie) in einer breiten Öffentlichkeit rezipiert. Okkult im ursprünglichen Sinne des „im Dunklen liegenden“ sind sie dann natürlich nicht mehr. Vielmehr sind diese Medien im hellen Licht der Popkultur für alle sichtbar, und zwar in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist als Fantasy und nicht als historische Geheim-Tradition.
Zum anderen hat das akademische Occulture einen anderen Kulturbegriff: einen weiter gefassten. Durch die Verbindung zur Popkultur bekommt Occulture einen Alltagsbezug: Occulture ist alltäglich, so das Statement von Partridge. Die Verhandlung von Magie in Medien ist alltäglich, ist Teil der „Western Society“. Sie ist in unseren Kinos und Buchhandlungen, aber auch bei Netflix, Facebook, Instagram, Facebook, YouTube und ebenso auf Tumblr, Discord und Reddit zu finden. Der vormals als geheimes Wissen gefasste Content kursiert in den öffentlichsten Plätzen: online – von zuhause aus und anonym, versteht sich.
Occulture ist aber auch deshalb alltäglich, weil okkultistischer Strömungen der Vergangenheit und Gegenwart die westliche Gesellschaften gestaltet haben, in denen wir leben. Die Idee der Verbindung zwischen Magie und Technik hat Steve Jobs zu seinem Tec-Imperium Apple inspiriert. Das Sillicon Valley ist Ergebnis von New Age Überlegungen und den zugehörigen Hippie Akteur*innen. Das Management-Tool NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) kann über die Positive Psychologie bis zur Church of New Thought zurück verfolgt werden. Die Idee einer Dualität aller Dinge, die Menschen sozial und biologisch in männlich und weiblich aufteilt, wie es Jordan Peterson nicht müde wird zu verkünden, ist eine alchemistische Idee, die ihn in eine Rezeptionslinie mit magisch arbeitenden Gruppen wie den Fraternitas Saturni und den Begründern der Homöopathie Paracelsus stellt. Und nicht zuletzt verdanken wir die Mindfulness-Diskurse in unseren Happiness-Zeitschriften und die Yoga-Studios in unseren Innenstädten auch den Theosophen des frühen 19. Jahrhunderts, die einen Import asiatischer Philosophien in Europa und Nordamerika vorangetrieben haben.
Der Occulture-Urknall der Spätmoderne, in der wir heute Leben, heißt Harry Potter. Was ich bei meinem Besuch in bei dem Drehort von Harry Potter in Warner Brothers Studios London beobachten konnte, schreibe ich in meinem nächsten Post.