Zweite Etappe: Das weite Feld. Über Orthodoxie und Heterodoxie
Alle, die noch mit mir reisen, oder die sich nach einer Pause wieder anschließen möchten: Es geht weiter, durch die Hecke auf die andere Seite.
Wenn du dort angekommen bist, wirst du ein paar interessante Beobachtungen machen. Erstens wird dir auffallen, dass die Fläche viel, viel größer ist als der Raum, von dem wir gerade kommen. Sie ist so weit, dass du sie mit bloßem Auge gar nicht überblicken kannst, obwohl wir erhoben stehen, wie auf einem Hügel. Dann wird dir auffallen, dass die Fläche auch nicht gleichförmig ist, sondern sich wiederum aufteilt in eine Vielzahl unterschiedlicher Acker, Gärten, Wälder, Moore, und so weiter. Es scheint hier eine Vielfalt von Wiesen und mit ihnen eine Vielzahl von Wissen zu geben. „Kraut und Rüben!“, ruft einer der Mitreisenden. „Alles Kraut und Rüben! Was für eine Unordnung. Wie soll hier einer durchreisen?“ Völlig richtig. Zum Durchreisen ist diese Wiese nicht gedacht. Es gibt kaum befestigte Wege, höchstens ein paar behelfsmäßig angelegte Trampelpfade. Der selbe Arzt, der deine Dornenkratzer verarzten würde, würde dir raten, diese Landschaft nicht zu durchqueren.
Ich stelle mich vor die Reisegruppe und zeige auf die Weite. „Das da ist, was der Schetsche Heterodoxie nennt.“, sage ich (Schetsche und Schmied-Knittel 2018). Und dann zeige ich hinter die Reisegruppe auf das Loch in der Hecke. „Und das da war die Orthodoxie.“ Doxa ist das altgriechische Wort für Meinung oder Glaube. Die Orthodoxie bezeichnet also die Rechtsgläubigkeit, also der Glaube an das Richtige. Die Orthodoxie umfasst die kulturelle Wirklichkeitsordnung, das was für die Bewohner dieses Raums als wirklich gilt. Diese Wirklichkeit wird machtvoll abgesichert, eben durch solche Institutionen, die die Vermittlung von Wissen betreuen: Wissenschaft, Schulen, Massenmedien und so weiter. Sie haben die schicke Hecke gepflanzt und passen auf sie auf. Die Heterodoxie bezeichnet die Abweichung von dieser Wirklichkeitsordnung. Sie ist das abweichende Wirklichkeitswissen. Während die Orthodoxie eine richtige (also machtvoll abgesicherte, verbindliche) Antwort auf die Frage hat, wie die Welt funktioniert, hat die Heterodoxie mehrere andere Antworten darauf.
„Und sind das dann die falschen Antworten?“, fragt einer aus der Reisegruppe, nennen wir ihn einfach mal Karl. Ich bin mir nicht sicher, was ich Karl dazu sagen soll. Er möchte von mir eine richtige, einfache Antwort, also eine orthodoxe Antwort. Ich könnte jetzt zu ihm sagen: Ja, genau, das eine sind die falschen, das andere die richtigen Antworten. Ich könnte ihm aber auch zeigen, was eine heterodoxe Antwort auf seine Frage wäre.
Ich sage also zu ihm: „Karl, diejenigen, die diese Hecke gepflanzt haben, haben es aus einem Grund gemacht. Die orthodoxen Antworten haben ihren Sinn und Zweck. Sie sind nützlich und hilfreich, zum Beispiel zur Orientierung und um zu verhindern, dass sich jemand verletzt oder um den Raum, auf dem sich die Menschen bewegen, nicht unendlich groß ist. Quasi damit wir uns wieder finden.“ Karl nickt und schaut in die Weite. Nach einer Weile sagt er: „Aber… warum? Also warum nutzen wir nicht die Potenziale dieser Weite aus? Warum kultivieren wie sie nicht?“ Karl hat scheinbar landwirtschaftliche Kenntnisse. „Das sieht aus, als könnte man was daraus machen!“ Ich folge seinem Blick. Ich erkläre ihm, dass auf diese Frage eine Menge heterodoxe Antworten zur Verfügung gestellt wurden. Ich zähle ein paar auf:
- Weil manche heterodoxen Wissensbestände im direkten Widerspruch und somit in Konkurrenz zu orthodoxem Wissen stehen (Vgl. Schetsche 2019). Ein Beispiel hierfür wäre die sogenannte Alternative Medizin, die von vielen Schulmedizinern vehement abgewertet und in ihrer Gültigkeit infrage gestellt wird. Über der Diskussion des tatsächlichen Wirkungsgrad steht der Kampf um Ressourcen: Wohin geht die Patientin? Wen finanzieren die Krankenkassen? Wer hat die Autorität der Wahrheitssprechung?
- Weil verknappte Ressourcen es leichter machen zu bestimmen, wer die Herrschaft über die Ressourcen besitzt. Wenn es weniger Möglichkeiten gibt, ist es einfacher diese zu verwalten und den Zugang zu regulieren.
- Weil nicht alle dazu in der Lage sind, heterodoxes Wissen auszuhalten, weil es Angst macht und die Eindeutigkeit der Welt infrage stellt (Vgl. Habermas 1981). Der enorme Vorteil von wenigen, klaren und eindeutigen Antworten ist die Sicherheit und die Orientierung, die davon für die Einzelnen ermöglicht werden. Die Bürde der Entscheidung, das Abwägen, das „Zwischen den Stühlen sitzen“ und unter den gegebenen Bedingungen Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen, ist anstrengender und herausfordernder als einem klar formulierten Manual zu folgen.
- Weil die Heterodoxie gar nicht für alle sichtbar ist, weil ihnen der Zugang fehlt, um sie sich verfügbar zu machen. Wir mussten uns ja auch erstmal durch eine Hecke durchkämpfen!
Karl kratzt sich am Kopf und denkt nach. „Heißt das, dass im Grunde die Gärtner der Orthodoxie ihren Raum beschützen wollen?“ Ja, ich denke so könnte man es ausdrücken. Den Raum, diejenigen, die darin leben und die Struktur, die darin existiert. Die Regeln, die Normen, die Annahmen über die Welt, die Herrschaft im Raum, die Gewohnheiten, die Abläufe, das kulturelle Leben also. Und lasst und bitte nicht vergessen, dass wir über vermitteltes Wissen sprechen. Es geht also auch um die Wissenschaft in all ihren Disziplinen und mit ihr um Bildung insgesamt.
Ein Grund, diese Ordnung aufrecht zu erhalten sind auch das Bedürfnis nach Sicherheit, eben genau das, was wir anfangs angesprochen haben: Den Schutz vor der Fremdheit, die Angst macht, weil sie unbekannt ist. Vielleicht ist das Unbekannte schädlich für den einen oder anderen. Und überhaupt, wenn wir den Blick über diese Weite schweifen lassen, muss uns eigentlich klar sein, dass nicht jede Frucht, die hier wächst, heilsam und gut für uns wäre.
Wenn wir das Unbekannte als schädlich kategorial ablehnen, sind wir aber auch auf dem Holzweg. Und es ist im Übrigen nicht so, als würde kein Austausch stattfinden. Die Orthodoxie ist ein lebendiger Raum, die Hecke wächst mal hierhin, mal dorthin. Denn wie Karl schon richtig beobachtet hat, könnte (und konnte bereits in der Vergangenheit) in diesem Feld der alternativen Wissens auch das wachsen, das zu kultivieren Vorteile und Wachstum bringt. Und in der Tat können wir einige dieser Auswüchse unser nun orthodoxes Eigen nennen. Bevor die Mathematik in der griechischen Antike salonfähig wurde, war sie eine der Astrologie unterlegene, belächelte Bagatelle. Bevor die Gleichberechtigung der Frau gesetzlich festgehalten wurde, war sie eine absurde Spielerei innerhalb der Kaffeekränze der französischen Bourgeoisie. Und um noch ein banaleres Beispiel zu nennen: Bevor Knoblauch zu einem der zentralsten Küchenzutaten meiner Oma wurde, war es das Gewürz der Migranten, das nicht verwendet werden durfte.
Dies ist ein weites Feld, sagte Effie Briest Vater, eine Roman-Figur des deutschen Schriftstellers Theodor Fontane, über die Frage nach Richtig und Falsch, über das, was jenseits der Orthodoxie liegen könnte. Wer sich hierauf zurecht finden will ohne die Guidance der orthodoxen Gärtner, den Wächter der Wirklichkeit (Schetsche und Schmidt 2016:24), der muss eine Menge Kompetenzen mitbringen. Eine davon ist die Bereitschaft zu Lernen, eine andere ist die Offenheit und der Mut, den Dingen neugierig entgegen zu treten, und eine weitere ist die Reflektionsfähigkeit, giftig von heilsam unterscheiden zu können, wohlwissend, dass es für den nächsten eine ganz gegenteilige Wirkung haben könnte. Es handelt sich also um Selbsterkenntnis: Was kann, brauche und vertrage ich? Und es geht um Verantwortungsbereitschaft: Was kann, braucht und verträgt diejenige, der ich davon erzähle. Und was passiert dann mit denjenigen, deren Wissen ich weitergebe? Was erzähle ich überhaupt?
Fühlen sich alle in der Reisegruppe entsprechend ausgestattet mit den notwendigen Ressourcen? Falls nicht, möchte ich darauf hinweisen, dass ihr die Gelegenheit bekommt, von jeder während dieser Reise dazu zu gewinnen (schon wieder ein Gewinn!). Im Grunde ist die Exkursion in die Heterotopie die Gelegenheit das aufgeklärte, vernünftige Subjekt zu werden, von dem der deutsche Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant geträumt hat. Ein Mensch, der selbst ins Denken kommt.
Jedenfalls weißt du jetzt das erste, sehr kleine Geheimnis, vielleicht nicht mal ein wirklich geheimes Geheimnis: Hinter der dichten Hecke liegt das weite Feld. Du hast es natürlich längst geahnt und es zu lüften war eigentlich mehr ein lausiger Taschentrick, als ein beeindruckendes Erlebnis für Abenteurer auf Entdeckerreise. Du hast ja gesehen, wie durchlässig diese Hecke war, und auch, wenn sie etwas kratzig ist, haben wir sie doch ohne größere Hürden überwinden können.
Wir sind jetzt eine Weile miteinander bergab gelaufen. Es ist noch recht sonnig hier, wenn auch nicht mehr so hell wie ganz oben. Aber wir können uns gut umsehen und erkennen, was hier so vor sich geht. Ich würde die Gelegenheit gerne nutzen, um mich vorzustellen. Als Reiseführerin hätte ich es natürlich schon früher tun sollen, aber erst jetzt macht es wirklich Sinn. Vorher hättest du gar nicht verstanden, was ich meine, wenn ich mich als Exorzistin vorgestellt hätte.
Nein, ich treibe keine Dämonen aus, sondern es ist meine Rolle in Bezug auf dieses kleine Geheimnis, über das wir gerade sprachen. Die Exorzistin, so erklärt Schetsche, gehört zum Kreis der Wissenden und hat es sich zum Ziel gesetzt, das Geheimnis zu zerstören und es restlos unmöglich zu machen, dass es weiterhin besteht. Die Exorzistin möchte, dass das asymmetrische Verhältnis von Wissen und Unwissen aufgehoben wird, weil damit auch die Mechanismen aufgehoben werden, die nur möglich sind, solange das Geheimnis geheim bleibt. Indem die Exorzistin dieses Geheimnis lüftet, ist es kein Geheimnis mehr. Du weißt jetzt, dass es eine Hecke gibt und dass hinter der Hecke ein ausuferndes, sehr weites Feld liegt. Falls du es vorher noch nicht wusstest, habe ich dich von der Unwissenden zur Wissenden gemacht. Du merkst bereits, die Rollen verändern sich und wechseln in Bezug auf ein konkretes Geheimnis.
Exorzistinnen handeln aus dem Gefühl heraus, dass sie das Richtige tun. Edward Snowden hat die Spionage-Praktiken des US-amerikanischen Geheimdienstes veröffentlicht, weil er der Meinung war, es sei moralisch unmöglich, es nicht zu tun. Julian Assange hat die Online-Plattform Wikileaks veröffentlicht, weil er der Überzeugung war, dass die von ihm erlangten Dokumente zu den Kriegen in Afghanistan und Irak auf ein Geheimnis hindeutet, dass zerstört werden sollte.
War das rechtens, so zu handeln? War es weise, fair, gerecht? Es gibt solche, die sagen es sei richtig. Es gibt solche, die sagen, es sei ein Verbrechen. Sie sagen, dass die sogenannten Whistleblower als Wissende von Geheimnissen einen Verrat begangen haben. Sie seien Verräter, weil sie das Geheimnis „vorsätzlich an die [verraten], denen es – nach der normativen Ordnung, zu der das Geheimnis gehört – nicht zusteht.“ (ebd. 41). Und weiter: „Im Gegensatz zum Handeln des Exorzisten geht es ihm nicht darum, das Geheimnis zu zerstören, sondern darum, die Kreise der Wissenden (oder Mitwisser) unerlaubt, und manchmal eben auch im eigentlichen Sinne des Wortes illegal, zu erweitern. Regelmäßig bleibt das Geheimnis dabei jedoch als Geheimnis erhalten.“ (ebd. 41).
Ob es sich bei den genannten Beispielen nun um Exorzisten oder Verräter handelt im Sinne von Schetsche ist schwer zu sagen. Es hängt natürlich von ihrer Motivation ab und darüber wissen wir nur das, was sie selbst gesagt haben oder über sie gesagt wurde. Ob das stimmt, können wir per Ferndiagnose nicht feststellen. Und dann hängt es noch von der Perspektive derjenigen ab, die ihr Verhalten beurteilen sollen. Die CIA hat hierzu einen klaren Standpunkt, so klar, dass beide nicht mehr in die USA einreisen, um einer vermutlich lebenslangen Haftstrafe zu entgehen.
Andere Personen stilisieren sie als altruistische Helden, die ihr ethisches Ansinnen über ihr persönliches Wohlergehen stellen. Sie stilisieren sie Gallionsfigur der verheißungsvollen Freiheit der Postmoderne. Wer hat nun Recht?
Dies ist ein weites Feld.
Und während wir so miteinander plaudern haben wir schon das nächste Etappenziel erreicht. Auf einer geraden Fläche steht eine Hütte. Wie sieht sie für dich aus? Ist sie einladend oder abschreckend? Ist sie gepflegt oder heruntergekommen? Du stehst jetzt vor dem Geheimnis zweiter Ordnung.
*2 Bekannte Geheimnisse
Das Geheimnis zweiter Ordnung nennt Schetsche das bekannte Geheimnis. Was daran allgemein bekannt ist, bezieht sich nicht auf seinen Inhalt, als vielmehr auf seine Existenz. Du kannst sehen, dass da diese Hütte steht, aber du weißt nicht, was sich hinter den verschlossenen Türen abspielt.
Schetsches Beispiele hierfür sind die Geheimnisse militärischer „Kommando Spezialkräfte“ (ebd.44) oder das Geheimwissen von Freimaurer-Gruppierungen. Das, was diese Personengruppen in dieser Hütte machen und wissen liegt nicht mehr so sehr im Sichtbaren, es weicht von der Norm und dem Durchschnitt ab. Am Beispiel von Freimaurerlogen ist auch zu beobachten, dass manche ihr nicht bekanntes Handeln und Wissen für bedenklich halten. Deshalb habe ich das zweite Sternchen im Raum der Heterodoxie gemacht, allerdings noch recht weit oben auf dem Berg, denn immerhin ist es ja ein bekanntes Geheimnis.
Ein Mitreisender, nennen wir ihn Friedrich, schnappt sich die Karte und schaut kritisch darauf. „Also die Kommando Spezialkräfte sind ja wohl anders als Freimaurerlogen!“, murmelt er grimmig und deutet auf das Sternchen auf dem Heterodoxen Feld. „Ich weiß ja nicht, was die genau treiben, also bei beiden nicht. Aber bei den Freimaurern finde ich es irgendwie komischer. Ich meine, die Militärs sind ja immerhin unter Kontrolle der Regierung. Die Freimaurer … die machen doch was sie wollen!“
Jetzt nimmt sich Karl die Karte und legt die Stirn in Falten. „Ja, es fehlt eigentlich noch was in der Legende der Karte, oder? Also sowas wie ist komisch.“ Komisch ist keine Kategorie für eine Karte, versuche ich. Aber das wird natürlich übergangen. Wenn „Gültigkeit“ eine Kategorie sei, dann ja wohl „Komisch“ auch. Ok, aber was heißt denn komisch, frage ich nach. „Naja, komisch heißt halt, dass es unheimlich ist.“ Dass es unheimlich wird, war von Beginn der Reise an ja klar. Es ist sozusagen auf Ansage hin unheimlich. Das ist im Übrigen ein spannendes Wort: un-heimlich. Also nicht so, wie es im eigenen Heim ist, nicht wie zuhause. Nicht wie in der Orthodoxie. „Aber die Kommando Spezialkräfte sind viel weniger unheimlich.“, meint Karl. „Und mit denen habe ich zuhause genauso wenig zu tun.“
Ich frage, ob das wirklich stimmt. Angenommen hier sind mehrere Hütten auf dieser Fläche. Und während ich darüber rede, siehst du, dass es neben dieser einen Hütte noch eine andere gibt, dort drüben. Und dann sind in der Ferne noch einige andere Hütten. Auf einmal gibt es ganze Dörfer von Hütten, die scheinbar miteinander verknüpft sind und solche Hütten, die ganz einsam für sich stehen.
Wir wandern an den Hütten vorbei, durch die Dörfer. Vor einer Hütte bleiben wir stehen. Angenommen darin würde sich das Spezialkommando treffen. Wie oft stehen Reporter der Orthodoxie vor dieser Tür und machen Fotos vom Garten? Wie oft wird über die heldenhafte, sicherheitsbringende und glanzvolle Leistung von Kommando Spezialkräften in den Massenmedien berichtet? „Naja, auch nicht oft. Aber halt immer mal wieder. Wenn sie eine Geisel befreien oder so.“ Wie es aussieht, blitzt ab und zu eine Kerze hinter den Fenstern der Hütte auf. Es gibt ein paar Vermutungen, was darin passiert oder zumindest die Vermutung, dass legitime Dinge darin passieren. „Es könnte aber auch sein, dass sie genau diese Kerze hin und wieder ins Fenster stellen, damit sie weniger unheimlich wirken.“, sagt jetzt Karl nachdenklich. Was für ein Fuchs du bist Karl. Vielleicht sollten sie dich für ihre Öffentlichkeitsarbeit engagieren!
Sie sind also sichtbarer für dich und auch legitimer in ihrer Arbeit, denn sie sollen ja genau das tun, was die Orthodoxie mit ihrer Hecke ohnehin tut: Sicherheit bieten. Schutz herstellen. Es muss wohl zwischen dieser Hütte und der Orthodoxie einen recht belebten Pfad geben. Sie steht wohl etwas weiter oben im Licht als andere Hütten.
Wenn wir jetzt weiter bergab laufen, etwas Querfeld ein, dann stehen wir vor der Hütte, in der wir jetzt einmal die Freimaurer wohnen lassen. Es hängen dicke Vorhänge vor den Fenstern. Wie oft wird über die Arbeit der Freimaurerlogen berichtet? Und was wird berichtet? „Ich habe mal eine Reportage dazu gesehen. Alles sehr mysteriös… und politisch sollen die ja auch Einfluss haben, nur weiß das keiner.“, erklärt Friedrich. Aber ist es nicht erstaunlich, dass du das über sie weißt? Wenn sie doch so geheim sind, wie kann es sein, dass du diese Informationen über sie bekommen hast? Wer wollte, dass du sie bekommst? Und welches Ziel stand dahinter?
Friedrich verschränkt die Arme vor der Brust. „Ja gut. Irgendwann kommt doch alles raus. Vielleicht gab es ja einen Maulwurf. Äh, also eben einen Verräter.“ Klar, das wäre möglich. „Andererseits könnte es ja auch sein, dass die Freimaurer selbst diese Reportagen in Auftrag gegeben haben, damit sie sich noch interessanter machen.“, überlegt Friedrich jetzt weiter. „Ja, oder“, wirft Karl ein, der sehr motiviert ist von meiner Bemerkung zu seinen beruflichen Möglichkeiten „sie gehen an die Öffentlichkeit, damit sie eben weniger unheimlich wirken, weil es vorher Verräter gab und alle von ihrer Existenz erst dadurch erfahren haben.“ Er stemmt die eine Hand in die Hüfte und zeigt mit der anderen auf die Hütte. „Die wurden doch bestimmt erst dadurch bekannt, also dass es so Verräter gab. Und dann sind sie bereit in Interviews oder in diesen Museen, die es mittlerweile gibt, über sich zu sprechen, damit die Leute weniger Angst vor ihnen haben.“ Ich lausche gespannt der Diskussion. Scheinbar inspiriert die Sachlage zu regen Vermutungen. „Warum wäre es wichtig, dass die Leute weniger Angst vor ihnen haben?“, frage ich. „Ja, weil sie sonst eine Hexenjagd auf sie machen. Wenn es Angst macht und unbekannt ist, dann wird es bekämpft, ist doch klar.“
Wo wir gerade von Angst sprechen: Der Tag geht langsam zur Neige. Es wird dunkler um uns herum und es ist Zeit, weiterzuziehen. Lassen wir das weite Feld hinter uns und suchen wir uns ein Plätzchen im Wald. Es heißt, dass dort eigenartige Gestalten leben. Aber vielleicht ist das auch nur ein Gerücht. Ist eigentlich irgendwer dabei, der gelernt hat in der Wildnis ein Feuer anzuzünden?
Michael Schetsche ist Wissenssoziologe und Forschungsmitglied des Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene. Sein Band Panorama des Unsichtbaren ist 2019 im Logos Verlag Berlin erschienen.
Literatur:
Banzhaff, Hanjo (1986): Das Tarot-Handbuch. München: Hugendubel.
Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas (engl. Orig. 1966) (1991): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns Bd. I Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Merten, Klaus (1999): Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Münster: LIT Verlag (Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, 1).
Schetsche, Michael (2019): Panorama des Unsichtbaren. Berlin: Logos Verlag Berlin.
Schetsche, Michael; Schmidt, Renate-Berenike (2016): Einleitung: Außergewöhnliche Bewusstseinszustände in der Moderne. In: Rausch Trance Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld: transcript, S. 7–33.
Schetsche, Michael; Schmied-Knittel, Ina (Hg.) (2018): Heterodoxie. Konzepte, Traditionen, Figuren der Abweichung. Köln: Halem.