Vorbereitung: Die Heldenreise beginnt. Wer reist mit?
Ich lade hoch offiziell und in aller Förmlichkeit zur Heldenreise ein. Es geht auf unserer Reise um nichts weniger als um Geheimnisse und Geheimwissen.
Was erwartet dich auf dieser Reise? Was den Grad an „Geheimheit“ betrifft, kann zwischen verschiedenen Ordnungen der Geheimnisse unterschieden werden. Drei dieser Geheimnis-Ordnungen sind die Etappenziele unserer Exkursion. Wir werden auch einige Personen kennen lernen, die mit Geheimnissen zu tun haben. Es sind die Spezialisten und Protagonisten der Geheimnisse – du gehörst übrigens zu ihnen! Damit du sie auch erkennst, wenn sie vor dir stehen, werde ich sie hervorheben.
Außerdem soll diese Reise eine kleine Begehung des Landes des Wissens sein. Genau genommen von einer bestimmten Form des Wissens, aber dazu kommen wir noch. Es geht also auch darum, eine Landkarte auszuleuchten, ihre Flächen und Tiefen kennen zu lernen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wo wir alltäglich und außeralltäglich unterwegs sind (oder auch nicht, weil wir sonst nicht dorthin kommen). Es handelt sich also um eine Abenteuerreise, ebenso wie eine Bildungsreise und soviel sei vorweg genommen, eine Reise bei der du dich auch ein bisschen anstrengen musst. Aber sonst wäre es ja auch keine Heldenreise, nicht wahr?
Um sich auf die Reise in die Schattenwelt der Geheimnisse und des Geheimwissens zu machen, gibt es ein paar vorbereitende Maßnahmen, die getroffen werden sollten. Zunächst, wie vor jeder Reise, sollten sich die Mitreisenden überlegen, ob sie wirklich mitkommen wollen. Die Reise wird zwangsläufig ins Dunkle führen und darüber hinaus eher in die Tiefe, um nicht zu sagen nach unten. Die Natur von Geheimnissen und Geheimwissen ist, dass sie uns unbekannt sind und es braucht nicht erst eine jahrelange Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Fremdheit, um zu verstehen, dass wir uns mit einer der, wie Sartre sagt, existenziellen menschlichen Emotionen konfrontiert sehen werden. Und das ist die Angst.
Sich mit dem zu beschäftigen, was Angst macht ist genau dann sinnvoll, wenn wir lernen wollen handlungsfähig zu bleiben trotz Angst. Und ich zitiere hier, um auf das Thema schon einmal einzustimmen, den Tarot-Experten Hanjo Banzhaf wenn ich sage, dass es „weder zu hoffen noch zu befürchten gilt“, wir hätten nach dieser kleinen Exkursion keine Angst mehr (Banzhaf 1986). Sich aus der Comfort Zone zu begeben in die Stretching Zone (oder gar nahe der Panik Zone?) ist anstrengend, birgt aber die Chance auf eine Erweiterung des Radius, in dem wir uns wohl und sicher fühlen. Und obwohl der Radius unserer Handlungsfähigkeit (unserer Agency) dadurch erweitert wird, haben wir die Angst dadurch nicht aufgelöst, sondern weiter weg geschoben. Wir laufen in die Tiefe, obwohl wir Angst haben, aber wir laufen. Und wir lernen dabei, und zwar über die Welt wie wir sie wahrnehmen und dabei vor allem über uns selbst. Dieses Schieben und Lernen ist der eigentliche Gewinn. Es gibt also auch etwas zu gewinnen auf der Reise, wer hätte das gedacht.
Ich habe im Übrigen eine Landkarte dabei. Ich habe sie nach Vorlage des deutschen Soziologen Michael Schetsche gezeichnet. Ich bin zwar sicher wagemutig und tapfer, aber eigentlich beschränkt sich diese Tapferkeit darin, euch auf diese Reise mitzunehmen. Wo lang wir gehen, das haben andere vor uns herausgearbeitet. Und ihre Arbeit zu schätzen ist doppelt schlau. Einmal, weil sie uns weiter hilft, voran zu kommen. Und zweimal, weil es angemessen und richtig ist, dort die Lorbeeren zu lassen, wo sie gewachsen sind.
Um uns mehr darüber im Klaren zu werden, wo wir genau sind und wohin wir gehen, lass uns in die Karte schauen. Ich habe versucht, die gedankliche Karte von Schetsche in eine graphische Karte zu übersetzen. Das ist notgedrungen immer eine Reduktion von Wissen (auch darauf kommen wir noch zu sprechen). Aber ich habe es mir erlaubt, weil es in diesem Fall dem Zweck dient, den ich jetzt versuche zu erreichen, und zwar der Orientierung.
Du siehst an den Rändern zwei Skalen. Die eine Skala lautet „Sichtbarkeit von Wissen“ beziehungsweise „Gültigkeit von Wissen“. Sie zeigt von unten nach oben, die Sichtbarkeit und die Gültigkeit des Wissens, das hier zu finden ist, nimmt also zu, je höher wir auf dem Berg sind. Oben, wo wir unsere Reise beginnen werden, ist die Sichtbarkeit und Gültigkeit von Wissen am größten. Oder anders herum gesagt ist das sichtbarste und gültigste Wissen hier zu finden. Je weiter wir nach unten steigen, desto geringer wird die Sichtbarkeit und das Wissen wird immer abweichender vom Mainstream. Es hat weniger Gültigkeit für die Wirklichkeitsordnung. Das vermittelte Wissen wird immer unsichtbarer im zweifachen Sinne: weniger zu erkennen und weniger legitim. Wir bewegen uns also im Laufe dieser Exkursion in den Schatten, in die Dunkelheit.
Auf der anderen Seite siehst du eine zweite Skala. Sie trägt den Titel „Zugang zur Ressource Wissen“ und ist von mir mit der Metapher von Sieben ausgestattet worden. Diese Skala muss eingeordnet werden. Schetsche schreibt, dass sich Geheimnisse im Grunde dadurch auszeichnen, dass sie „eine asymmetrische soziale Beziehung bezüglich der Ressource Wissen“ anzeigen (Schetsche 2019: 33). Es ist keinesfalls so, dass der Zugang von jeglichem Wissen oben auf der Bergspitze für alle verfügbar ist. So herum macht die Sieb-Skala keinen Sinn. Ihr Sinn ergibt sich nur anders herum: Je weiter wir in die Tiefe gehen, desto weniger Personen ist der (bewusste) Zugang zum Wissen verfügbar. Es handelt sich hier also um Siebe, die immer weniger durchlassen. Das Wissen, das sehr weit unten liegt, ist also wenig sichtbar und wenig gültig für die Alltagswirklichkeit hier auf der Bergspitze und es gibt wenige Wissende dort unten, die es kennen. Andererseits gibt es viele Unwissende hier oben, die es nicht kennen. Dazwischen gibt es noch das Mittelfeld der Mitwissenden, denen zwar bekannt ist, das es ein Geheimnis gibt, aber nicht welches.
Erste Etappe: Die dichte Hecke. Über Semiotik und soziale Wirklichkeit
Gut, wer jetzt in der Reisegruppe ist, folgt mir bitte zum ersten Posten.
Es geht voran im hellen Sonnenlicht über den Rasen. Dann stehen wir vor ein paar Büschen und Hecken. Hier geht es gar nicht weiter, wird sich jetzt der eine oder andere denken. Ja, stimmt. Oder zumindest soll es stimmen. Was wir jetzt also brauchen, und das weiß die erfahrene Reisende, ist Werkzeug. Ich hätte im Angebot eine Lupe, eine Heckenschere und ein paar dicke Arbeitshandschuhe. Schauen wir zunächst einmal durch die Lupe. Wir sehen, dass die Hecken dicht und zum Teil voller Dornen sind. Wir sehen, dass sie in einer geraden Linie gepflanzt wurden und es sieht aus, als wäre hier die Grenze des Raums. Gut. Der begehbare Raum des Alltags ist hier begrenzt. Jemand will ihn schützen und bewahren und hat deshalb eine recht stabile und dichte Hecke darum gebaut. Im Übrigen, wer zwischendrin merkt, es wird ihm oder ihr zu wild, der bleibt einfach an Ort und Stelle oder kehrt zurück. Das ist keine Zwangsmission, das ist eine Entdeckungsreise. Jemand wollte jedenfalls, dass du jetzt nicht weiter gehst. Was jetzt also? Ich habe die Handschuhe dabei, die werden wir brauchen, wenn wir weiter gehen wollen. Diese Hecke mit bloßen Händen anzufassen wird schmerzhaft und vielleicht auch gefährlich. Mit anderen Worten: Diese Hecke wird nur von denjenigen überwunden, die sich vor ihren Dornen schützen können, die zum Arbeiten gekommen sind und nicht zum Lustwandeln.
Wir ziehen uns also die Arbeitshandschuhe an. So. Nun zu der Heckenschere. Wir müssen sie nicht erfinden. Sie wurde bereits von vielen erfunden, benutzt und stets verbessert und geschärft. Wenn wir sie uns mit der Lupe ansehen, können wir erkennen wo sie überall ausgebessert wurde. Und wenn wir uns die Hecke genau ansehen, erkennen wir auch, wo sie bereits damit zurück geschnitten wurde. Wer jetzt Skrupel hat in die schöne Hecke zu schneiden, den kann ich nur bedingt beruhigen. Ich kann dich beruhigen, dass sie hinter dir wieder zuwachsen wird. Es entsteht kein großes Loch. Ich muss dich aber ebenfalls beunruhigen, denn das gilt nur für andere, nicht für einen selbst. Die Hecke wird nicht mehr die selbe sein für dich, nachdem du darin herum geschnitten hast.
Gut, machen wir die ersten Schnitte.
Was ist Wissen? Du schlägst die Hände über dem Kopf zusammen. „Wo sollen wir da nur anfangen? Diese Hecke ist zu hoch, zu breit und zu tief. Korrekt, das schaffen wir nicht an einem Tag.“, ruf ein Mitreisender. Aber wir wollen auch nicht die gesamte Hecke abholzen, es reicht uns, wenn wir einen kleinen Durchgang an dieser speziellen Stelle verschaffen. Was ist also vermitteltes Wissen, fangen wir mal damit an. Es geht also nicht um das, was wir selbst erfahren und erlebt haben, sondern das, was wir von anderen gelernt haben. Das vermittelte Wissen ist zwangsläufig eine Abstraktion des Erlebten (Getanen, Gedachten, Wahrgenommenen, etc.). Das hat ganz praktische Gründe, einer davon ist, dass wir andere beispielsweise aus Zeitgründen nicht immer mitnehmen können, um drauf zu zeigen und zu sagen: „Das da!“ Ein anderer ist, und vielleicht ist es das sogar noch mehr, selbst wenn wir es täten, würde der eine sagen: „Oh, eine schöne Blume.“ Und der andere würde sagen: „Oh, ein störendes Unkraut in meinem Gemüsebeet.“ Und der nächste würde sagen: „Oh, ein grünes Objekt auf dem Boden. Interessiert mich nicht.“ Und der vierte würde vielleicht eine Antwort geben wie: „Ja. Das ist Fotosynthese. Das ist ne krasse Sache.“
Mit anderen Worten: Jeder würde etwas anderes sehen und das, was wir eigentlich teilen wollten, erreicht seinen Adressaten nicht. Es braucht eine Abstraktion (also eine Vereinfachung und Zuspitzung), um einem Gegenüber zu vermitteln, was wir eigentlich zum Ausdruck bringen wollten, auf eine möglichst effiziente Weise. Es geht also um die Abbildbarkeit von Ideen in Symbolen, wie beispielsweise Bildern (wir könnten ein Foto oder eine Zeichnung machen) oder, noch abstrakter, wir können davon sprechen: „Im Garten blüht eine Diestel.“
In der „Einführung in die Kommunikationswissenschaft“ von Klaus Mertens (Mertens 1999) ist dieses Abstrahieren als Fiktion beschrieben. Warum? Weil das abstrahierte Symbol nicht das Reale ist, wofür es steht, sondern die Fiktion eines Realen hervorrufen soll. Kommunikation ist Fiktion. Vermitteltes Wissen ist Fiktion. „Heißt das, es ist nicht wahr? Oder noch deutlicher: heißt das, es ist falsch?“ Nein. Es heißt, es ist vermittelt und reduziert sich auf manche Aspekte, es ist quasi komprimiert auf diejenigen Facetten, die zum Ausdruck gebracht werden können bzw. sollen. Das vermittelte Wissen ist nicht alles, was gewusst werden könnte, aber es bildet eine soziale Wirklichkeit ab (Vgl. Berger und Luckmann 1966) . Dass die Hecke die Grenze des Raums ist, ist eine soziale Wirklichkeit. Dass wir darin herum schneiden können und auch noch etwas hinter dieser sozialen Wirklichkeit liegt, ist eine Erfahrung, die wir jetzt machen.
Wir haben ein erstes Loch in die Hecke geschnitten und du bist erschöpft. Die eine oder andere Dorne hat deine Arme zerkratzt. Du weißt noch nicht, ob du jetzt besser zum Arzt gehen solltest. Vielleicht solltest du. Rom wurde auch nicht an einem Tag erobert, lautet ein Sprichwort. Wenn es reicht, dann reicht es. Du kannst auch morgen wieder kommen.
Falls du dich jetzt umdrehst, um nach hause zu gehen, möchte ich dich zumindest noch auf das erste Etappenziel unserer Reise aufmerksam machen. Es liegt genau genommen nämlich bereits hinter uns. Wir sind daran vorbei gelaufen, ohne es wirklich wahrzunehmen, weil es uns so selbstverständlich vorkommt.
*1 Luzide Geheimnisse
Das Geheimnis erster Ordnung nennt Schetsche luzides Geheimnis (luzide = im Licht). Dieses sogenannte Geheimnis ist eigentlich gar nicht geheim, sondern allen bekannt. Es ist also ein „Nichtgeheimnis“ (ebd. 43). Der einzige Grund, warum es überhaupt als Geheimnis bezeichnet wird, ist die dadurch entstehende Neugierde des Publikums. Die Thematik, um die es sich dreht, soll interessanter gemacht werden. Luzide Geheimnisse sind solche, die auf Werbetafeln stehen. „Hier gibt es nichts zu sehen“ soll hier eigentlich bewirken, dass die vorbei laufenden Personen denken: „Oh, hier gibt es scheinbar etwas interessantes zu sehen.“ Das es etwas zu sehen gibt und was es genau zu sehen gibt, wissen alle. Sie können jederzeit hingehen und schauen.
Und hier treffen wir auch die ersten Protagonisten der Geheimnisse. Es handelt sich um die Wissenden. Im Fall der luziden Geheimnisse bist du das selbst. Bei diesen Geheimnissen sind nämlich alle die Wissenden. Zugegeben, die Kategorie des Wissenden macht als Abgrenzung erst wirklich Sinn, wenn es auch Unwissende gibt. Wissende dessen zu sein, was ohnehin alle wissen, ist sehr praktisch, aber auch wenig abenteuerlich.
Apropos Abenteuer: Hinter der dichten Hecke wird es schon etwas aufregender. Also wenn du doch noch mitkommen willst…?
Michael Schetsche ist Wissenssoziologe und Forschungsmitglied des Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene. Sein Band Panorama des Unsichtbaren ist 2019 im Logos Verlag Berlin erschienen.
Literatur:
Banzhaff, Hanjo (1986): Das Tarot-Handbuch. München: Hugendubel.
Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas (engl. Orig. 1966) (1991): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns Bd. I Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Merten, Klaus (1999): Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Münster: LIT Verlag (Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, 1).
Schetsche, Michael (2019): Panorama des Unsichtbaren. Berlin: Logos Verlag Berlin.
Schetsche, Michael; Schmidt, Renate-Berenike (2016): Einleitung: Außergewöhnliche Bewusstseinszustände in der Moderne. In: Rausch Trance Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld: transcript, S. 7–33.
Schetsche, Michael; Schmied-Knittel, Ina (Hg.) (2018): Heterodoxie. Konzepte, Traditionen, Figuren der Abweichung. Köln: Halem.