Worin liegt die Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen? Und worin die Lösung?
Jean Paul Sartre hat darüber reflektiert, was es bedeutet, dass wir existieren. Wenn es um die Schwierigkeit geht, Entscheidungen zu treffen, sind zwei Aspekte an unserer Lebendigkeit zentral in seiner Betrachtung: Erstens, dass wir sterblich sind und zweitens, dass wir frei sind. Warum Menschen Angst davor haben, Entscheidungen zu treffen, ergibt sich für Sartre aus ihrer Freiheit. Es ist zum einen die Angst um ihre Freiheit, und zum anderen die Angst vor ihrer Freiheit.
Zur Angst um die eigenen Freiheit:
In der Ausgangslage haben Menschen eine große Menge an Möglichkeiten, die sich aus der Tatsache ergeben, dass sie leben und aus den Rahmenbedingungen, wie sie leben. Diese Breite an Möglichkeiten schränkt sich zwangsweise unentwegt ein. Das sieht Sartre in der Sterblichkeit begründet. Der Tod ist für ihn die „jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten“. Das Leben bekommt durch die Dimension der Sterblichkeit die Note einer Ressource, die begrenzt und dadurch wertvoll wird. Die verfügbare Zeit (deren Ausmaß nicht wirklich einzuschätzen ist) entspricht dem Rahmen meiner Möglichkeiten, zu leben und damit einhergehend zu erleben, zu realisieren und zu gestalten.
Zum anderen schränken wir unsere Möglichkeiten dadurch ein, dass wir Entscheidungen treffen. Eine Wahl zu treffen bedeutet ebenso, „eine Möglichkeit hin unter Ausschluss anderer“ zu wählen. Somit wird der freiheitliche Akt des Wählens zur „Übernahme und Schaffung der Endlichkeit“. Die Begrenzung der eigenen Möglichkeiten ist ein schmerzvolles Ereignis in der Einschätzung Sartres. Wir verkleinern unsere Freiheit, indem wir andere Möglichkeiten ausschließen.
Angst vor der eigenen Freiheit
Die bedrohliche Dimension von Entscheidungen ergibt sich für Sartre aber vor allem daraus, dass der Mensch frei ist. Diese Freiheit, die keine Konditionen kennt, übergeht die Grenzen von sozialen und politischen Kontexten. Auch wenn wir vieles, was tabuisiert oder verboten oder vermeintlich sozial unmöglich ist, nicht tun, so haben wir doch grundsätzlich die Freiheit, also die Möglichkeit, all das dennoch zu tun. In dieser Theorie sind Menschen frei, jegliche Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Für Sartre ergibt sich daraus die Angst, einmal getroffene Entscheidungen bei nächster Gelegenheit anders zu entscheiden. Diese Grenzenlosigkeit der Freiheit macht Angst, weil der Mensch unzuverlässig und unberechenbar dadurch wird. Was er einmal gewählt und entschieden hat, kann er am nächsten Tag wieder anders entscheiden. Es handelt sich um die „Angst [zur] Besorgnis, mich bei dieser Verabredung [mit mir selbst beim nächsten Mal] nicht anzutreffen.“
Des Weiteren bemerken der Psychologe Thomas Fuchs und der Philosoph Stefano Micali, dass Angst vor der Freiheit auch bedeutet, falsche Lebensentscheidungen zu treffen, Chancen nicht zu nutzen oder die Angst vor der Bedeutungslosigkeit des Lebens oder der eigenen Person. Da Menschen frei sind in ihrem Handeln, haben sie jegliche Berechtigung und gute Gelegenheit, sich für ihr eigenes Unglück zu entscheiden. Keine Entscheidung zu treffen und somit diese Freiheit für sich selbst nicht zu nutzen, schont so gesehen den Ressourcenbestand „Möglichkeiten“ und vermeintlich erhalten wir uns damit die größtmögliche Freiheit.
Entscheidungen treffen: Wie kann das funktionieren?
Es ist in dieser Logik aber ausgerechnet die Angst, oder besser: die Wertschätzung für das Leben, die ja hinter all dieser Angst steckt, die uns eine Lösung gibt, wie wir uns doch entscheiden können. Wenn wir in der Angst verharren, falsche Entscheidungen zu treffen, dann haben wir zwar nichts ausgeschlossen, kommen aber tatsächlich nicht dazu, unsere Möglichkeiten auszukosten. Wir kommen so nicht in den Zustand der Handlungsfähigkeit.
Die vermeintlich geschonte Ressource der Freiheit kommt nicht zum praktischen Einsatz. Sie verliert ihren Wert, weil sie ihre Wirklichkeit verliert. Wir realisieren unser Leben nicht. Wir entgehen potenziellen Erfahrungen. Wir gestalten nicht, sondern bleiben auf den eingesparten Bausteinen schlichtweg sitzen. Die Angst um die Freiheit (Potenziale zu verschenken) wird zur Gewissheit und Realität, wenn wir aus Angst vor der Freiheit (Fehler zu machen) gar keine Entscheidung treffen.
Es ist gerade Sartres scharfsinnige Beobachtung, WIE frei wir als Menschen sind, die uns beruhigen könnte. Angenommen wir entscheiden uns für einen Weg, der sich als problematisch herausstellen, wir erfahren, was wir vorher nicht wussten oder wir verirren uns unterwegs (also leben ein ganz reguläres Leben), dann ist es doch gerade die Überlegung unbeschreiblich beruhigend, dass wir uns jederzeit anders entscheiden könnten. Die vermeintliche Gefahr der Möglichkeit sich bei der einmal getroffenen Verabredung nicht zu treffen, gibt uns die Chance, die Route während des Laufens anzupassen, gegebenenfalls an neue Informationen, Werte, Beziehungen oder Ereignisse, die wir vorher gar nicht kannten oder hatten.
Was ergibt sich also aus Sartres Existenzialphilosophie für das Treffen von Entscheidungen? Den einzigen tatsächlichen Fehler, den wir machen können, ist uns nicht zu entscheiden. Aus Angst vor der Freiheit verspielen wir so die tatsächliche Freiheit (der Lebendigkeit in Form von Selbstbestimmung).
Mit Sartre gedacht, können wir die Not der Angst zur Tugend der Freiheit machen. Denn alle Entscheidungen können wir, frei wie wir sind, nochmal anders treffen. Auch die Begrenzung unserer Ressourcen durch die eigene Sterblichkeit und der Vergänglichkeit der Rahmenbedingungen fordern doch erst recht auf, in die Lebendigkeit von Handlung zu kommen. Denn schließlich wird vor dem Hintergrund von Sartres Beobachtung der Freiheit ohne Konditionen das Konzept von falschen Entscheidungen obsolet.
Literatur:
Rudolph, Enno (2017): Angst als Preis der Freiheit. Sartres Heideggerkritik. In: Stefano Micali und Thomas Fuchs (Hg.): Angst. Philosophische, psychopathologische und psychoanalytische Zugänge. Freiburg, München: Verlag Karl Alber (6), S. 70–79.
Fuchs, Thomas; Micali, Stefano (2017): Die Enge des Lebens. Zur Phänomenologie und Typologie der Angst. In: Stefano Micali und Thomas Fuchs (Hg.): Angst. Philosophische, psychopathologische und psychoanalytische Zugänge. Freiburg, München: Verlag Karl Alber (6), S. 98–118.