Sextoy-Party und Salon-Diskurse
Meine Freundin hatte Geburtstag und lädt uns zum Brunch nach Hause ein. Es gibt selbstgemachten Humus, frischen Kaffee aus der Deluxe Jura Maschine und Sextoys. Die bringt Sandy mit, eine Beraterin in Sachen Selbstliebe, Feminismus und Sexspielzeug, diesmal im Auftrag eines Erfolgsunternehmens zum Vertrieb von erotischem Spielzeug.
Sandy ist etwa 180 groß, hat engelsgleiche weißblonde lange Haare, strahlendblaue Augen und Kurven wie Meghan Trainor. Bevor wir über Spielzeug reden, reden wir über Business. Quasi von Geschäftsfrau zu Geschäftsfrau. Selbstständigkeit, Netzwerke, Strategie und Marketing. Und dann gibt es Kaffee und Frühstück. Wir setzen uns an den Küchentisch. Damit alle Platz haben rollen wir einen Bürostuhl an die Stirn der Tafel, auf dem Sandy Platz nimmt und von nun an die Plattform, Projektionsfläche und Bühne unserer Gedankenspielereien zu Sexualität und Weiblichkeit wird.
Sie fragt uns, ob wir uns alle kennen und ob es uns unangenehm ist. Wir rutschen auf unseren Plätzen hin und her. Nein tun wir nicht, und bisher geht es noch. Dann stellt sie ein kleines Fläschchen auf den Tisch, ein multidimensionaler Icebreaker. Es ist eine stimulierende Tinktur, die frau sich auf die Klitoris reibt. Sie würde es gleich auf die Toilette stellen, wo wir es anonym ausprobieren sollen, wenn uns danach ist. Ich schlucke und lege mein Brötchen zur Seite.
Sandy gibt uns einen Dildo zur Stimulation des weiblichen G-Punkts in hellem lila und redet über die weibliche Urkraft. Sie berichtet, dass sie am erschreckendsten findet, wie wenig die meisten Frauen über ihren eigenen Körper wissen. Während der Zeit im Bestellzimmer (nach der Party können die Gäste in einem separaten Raum ihren Einkauf tätigen) kämen häufig traurige Herzen auf sie zu, auf der Suche nach Guidance und Empowerment. Der G-Punkt etwa, beginnt sie ihre Aufklärungsarbeit, ist ein Muskel, der trainiert werden kann (und muss, sofern frau ihn zu benutzen gedenkt). Sie schlägt Yoga vor. Und nein, er ist kein innerer Teil der Klitoris (wie zunächst hypothetisiert wurde).
Diese ist im Übrigen ein 10 cm großes Organ, dass über die kleine Kugel zwischen den Schamlippen hinaus zu 90 Prozent innerhalb des Körpers liegt. Dieses Faktum wird schweigend hingenommen und ich kann nicht sagen, ob sich alle Frauen der illustren akademischen Runde, die zum Großteil aus Psychologinnen bestand, dessen bewusst waren. Ein Faktum, dass nebenbei bemerkt erst vor zwanzig Jahren entdeckt wurde.
Das Reden über den weiblichen Körper und Sexualität, insbesondere wenn sie nicht bedient, sondern sich selbst zum Zweck hat, und insbesondere, wenn etwas nicht funktioniert wie gewünscht, ist ein toter Diskurs, erklärt sie. Sich selbst zu verstehen wird nicht unterrichtet in den Schulen und nicht besprochen beim Sonntagsbrunch. Außer bei unserem Sonntagsbrunch mit Sandy. Mir wird klar: Sandy ist halb Verkäuferin, halb Sexualtherapeutin und noch eine gute Portion Persönlichkeitsentwicklerin obendrauf. Sie ist das Sahnehäubchen des weiblich-ausgerichteten Erotikmarktes.
„Und deswegen, Mädels, ist es so wichtig über Sex zu reden“, erklärt sie und packt zwei Liebeskugeln in unterschiedlichen Gewichtsklassen auf den Esstisch. Bei den 95 und 120 Gramm-Objekten handele es sich, anders als in Filmen wie Fifty Shades of Grey in dem Mehrheitsdiskurs getragen, nur zweitrangig um ein Toy im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um ein Fitness-Gerät. Diese Miniatur-Hanteln haben den Zweck, den Becken-Boden zu stabilisieren, stellt unsere Beraterin klar. „Wer sie am Anfang länger als 15 Minuten trägt, bekommt möglicherweise heftigen Muskelkater und kann unter Umständen nicht mehr sitzen.“, erklärt Sandy, während die Geburtstagsgäste mit andächtigen Gesichtern die Gewichte in je einer Hand zu wiegen versuchen. Sandy redet von postnataler Inkontinenz im selben Atemzug wie von der Fertigkeit vaginaler Muskelkraft im Bett. Sie ist dabei so gelassen, wie politisch wirksam. Face the facts, Baby. „Aber darüber redet einfach keiner.“
Dann adressiert Sandy den Diskurs über Sex während der Menstruation. Sie spricht die „Glaubenssätze“ der Unreinheit an und kontrastiert sie mit anderen Lesarten. „Die Kelten etwa, haben die Menstruation als heilig angesehen.“ Sie erzählt auch vom „Menstruationsurlaub“, dem Menstrual Leave, in dem frau bezahlt oder unbezahlt Urlaub nehmen kann während ihrer Periode (ein Konzept, dass bereits in einigen asiatischen Ländern Realität ist). Wir sprechen über Zyklen, Biologie und der „Superkraft“, ein Kind zu gebären. Es entsteht ein Doing Female Body, ein Herstellen von Realität, was es bedeutet, als Frau den eigenen Körper zu bewohnen.
Der Sextoy-Brunch wird zum Raum der politischen, psychosozialen und biologischen Bildung. Zwischen den sich häufenden Rabbit-Vibratoren (lila ist übrigens die Farbe des Jahres 2018), häufen sich ebenso die Diskussionsfelder. Was bedeutet es, regelmäßig mit biologischen Prozessen im eigenen Leib konfrontiert zu werden? Was bedeutet die Herausforderung ein so empfindliches Milieu zu behüten? Als wir ein Massageöl rumreichen, dass sich hervorragend für einen Handjob bei Männern eignet, aber unter keinen Umständen für eine Frau, kommentiert Sandy trocken: „Bei Männern ist das auf der Schutzschicht der Haut. Frauen haben dort eine direkte Öffnung zu den Organen ihres Körpers. Deshalb.“ Simple, but true. Wer sich mal aus Versehen Chili ins Auge gerieben hat, versteht, was Sandy damit sagen wollte.
Warum wird das nicht als basic knowledge weitergegeben, an sowohl Frauen wie Männer? Wieso muss es noch erwähnt werden, dass aus hygienischen Gründen eine Analkette nach entsprechender Benutzung keinesfalls mehr vaginal verwendet werden sollte? Warum schenken die einen ihren Eltern Sextoys zum Geburtstag (wie wir erfahren) und die anderen können nicht ihre sexuellen Traumata oder medizinischen Eingriffe zuhause besprechen?
Ich frage mich, ob es an der Verliebtheit in das Bild einer Frau der Kultur, des Show and Shine, der Sexiness oder die Fantasie der unbeugsamen Selbstkontrolle liegt. Über die Anzeichen des Kontrollverlustes, die Risse in der Fassade der Gemachtheit, wird ein festes Tuch des Anstands gewickelt. Weil es nicht salonfähig ist, seitdem Sigmund Freud 1921 mit seiner Veröffentlichung „Das Unbehagen in der Kultur“ wirksam die Natur-Kultur-Dialektik durch das Innerste des modernen Bürgertums gezogen hat. Wer rein wollte, der solle bitte Schuhe, Jacke und Natur ausziehen, bevor er die Stube betritt. Diese Trennung wird somit zur Kondition und Konditionierung einer Idealfigur der modernen, bürgerlichen Frau. Und sie ist selbstredend eine Farce, eine Sollbruchstelle, die eine stetige Dissonanz zwischen Ideal und Real produziert, denn wie soll das in einer vor-digitalen Welt überhaupt möglich sein, körperlich anwesend zu sein und dabei die Natur abzuschütteln? Da haben es die die jungen Menschen der Postmoderne schon schwieriger, die in einer digitalen Öffentlichkeit nicht sehen oder hören, was ein weiblicher Körper so mit sich bringen kann, außer zu erwartenden akzeptablen Formen und Funktionen. Zu welcher Positionierung finden sie, irgendwo zwischen Body Shaming, Body Positivity und Body Neutrality?
Während der zweiten Kaffeerunde und dem Umfunktionieren eines Auflege-Vibrators, der den meisten deutlich zu aggressiv ist und sich, wie wir feststellen, besser als Stirn- und Nackenmassage-Gerät eignet, diskutieren wir, was für ein emanzipatorischer Weitsprung der Markteintritt der so called Anti-Baby-Pille für Frauen war. Plötzlich war da ein Zugewinn an Kontrolle für die eigene Lebensplanung. Und auch in Sachen sexuelle Freiheit war deutlich mehr zu deutlich geringeren Risiken möglich. Aber das Ganze kommt nicht umsonst, diskutieren wir weiter. Was verändert sich durch die Einnahme starker Sexual-Hormone in Sachen Geruchssinn, Haut, Persönlichkeit, Gemütszustand und Libido?
Der Kontrast wird erst wirklich deutlich, wenn frau nach einer zehnjährigen Tunnelphase der Hormoneinnahme beim Absetzen des Medikaments mit ihrem biologischen DIY zu tun hat. Wie schmerzhaft oder bereichernd ist die Konfrontation mit der eigenen Biologie? Jemand berichtet, dass sie nach einigen Monaten ihre Frauenärztin fragte: „Wann werde ich eigentlich wieder normal?“ Ihre Ärztin antwortete ihr: „Sie waren vorher nicht normal… Das, was sie jetzt sind, das sind sie in normal.“ Und wie gehen Paare damit um, wenn frau wechselhafter wird, einen monatlich biologisch festgelegten und bio-psycho-sozial wahrnehmbaren Rhythmus hat und möglicherweise sogar mehr Lust auf Sex hat, als das letzte Jahrzehnt?
Ich frage mich, ob es auch deshalb ein „toter Diskurs“ ist, nicht weil Männer ihn abgetötet hätten, sondern ob er vielleicht sogar von Frauen sterilisiert wurde, weil er die Gefahr birgt die Realität von Körper mit der Realität von Kompetenz zu verwechseln. Als wäre es besser ein Kultur-Objekt zu sein, dass sich aus den Verkettungen biologischer Prozesse entrissen hat, bevor frau als unzivilisiertes Opfer ihrer selbst wahrgenommen würde, unfähig ein Heer anzuführen oder ein Unternehmen zu leiten. Dabei entgehen uns aber zwei elementare Punkte.
Zum einen sind alle Menschen, Frauen wie Männer und das weite Spektrum dazwischen und außerhalb davon, Besitzer von Körpern, die ihnen Möglichkeiten geben und Grenzen setzen. Es ist keine weibliche Eigenart, im Inneren von Hormonen, Organen, Knochen und Haut zu leben und damit klarkommen zu müssen. Das gilt für alle. Zum anderen ist es doch gerade dieses Nicht-Vertrautsein, die Verklemmtheit und Angst vor dem, was nicht Gemacht ist, dieses esoterisch gehandelte Wissen über das „Leben in einem Körper“, dass Menschen unsouverän damit umgehen lässt. Es wäre nicht komisch, wenn wir damit nicht umgehen würden, als hätte es draußen am Jackenhaken seinen Platz, aber nicht in uns selbst. Das Maß an Peinlichkeit, das wir empfinden, darüber zu sprechen, ebenso wie das Maß an Abwertung, das in unseren Köpfen entsteht, wenn wir jemanden darüber sprechen hören, entspricht in etwa unserem Gehorsam gegenüber der Ordnung der Dinge. In unserem Unbehagen fühlen wir unsere Konditionierung, was sein darf und was nicht.
Die wohl beeindruckendste Erfahrung an diesem Vormittag war für mich, als Sandy ein Parfum auf den Tisch zwischen die Toys, Tassen und Teller stellt. Die Flüssigkeit mit dem klangvollen Namen Eau Yes ist ein blumig-frischer Duft, die mit Sexual-Pheromonen versetzt wurde. Bei Pheromonen handelt es sich um einen chemischen Botenstoff, der ein funktioneller Vorläufer von Hormonen ist und Informationen überträgt, wie Spektrum Wissenschaft berichtet. Das Fläschchen ging also durch die Reihen und jede gönnte sich eine ordentliche Portion. Was als Nächstes passierte, waren zwei Dinge. Zum einen bemerkten die Gäste, dass das Parfüm bei jeder deutlich anders roch, und es entstand die Vermutung, dass es auch deutlich größere Unterschiede zwischen den Trägerinnen gab, als bei anderen Parfüms. Zum anderen, allerdings war ich in dieser Sensation scheinbar die einzige, fühlte ich mich nach wenigen Minuten im Raum, als hätte ich eine Flasche Sekt getrunken. Mein Herzschlag verschnellerte sich, meine Atmung flachte ab und ich hatte das Gefühl als hätte ich eine Gänsehaut von Innen.
Wir sind sozialisiert, haben gelernt innerhalb einer Wissensordnung die Realität zu verstehen und uns selbst darin eingeschrieben. Wir haben die Regeln des Salons verinnerlicht, ja verkörperlicht in der Art, wie wir uns kleiden, bewegen und unsere Instagram Profile füllen. Und gleichzeitig braucht es nur ein paar Spritzer Pheromone und den Diskurs über Menstruation, um die Gewissheit einer körperlichen Indifferenz in der digitalen, globalen, individualisierten Postmoderne infrage zu stellen. Wir sind Teilnehmer von Kultur. Aber wir sind auch Bewohner und Konstituten von Natur. Der weibliche Diskurs über die körperliche Sensation des Frau-Seins geht an dieser zweiten Realität häufig vorbei. Vielleicht braucht es dafür einen anderen, einen zweiten Salon, in dem eine Einweihung und Initiation in diese Wissensordnung stattfinden kann. Vielleicht ist diese solidarische Entlastung und Aufklärungsarbeit der soziale, kulturelle und biologische Need für den guten alten Girls-Talk.
Und vielleicht hilft es auch eine Initiatorin wie Sandy dabei zuhaben, die mit ihrem Koffer voller Toys das Spielfeld für alternative Realitäten mit dem Tabu-Bruch einer so gedachten Natur-Kultur-Dialektik auf dem Küchentisch eröffnet.