Buchrezension Alfred Gosser „Le Mensch“

Vorwort

Diese Rezension habe ich für ein systemisches Journal geschrieben. Die Redaktion des Journals hat sich nach meiner Abgabe des Artikels für drei Monate beraten, ob sie den Text drucken können oder nicht und sich letztendlich dagegen entschieden. Zum einen sei es ein großes Stück, einen diskursmächtigen Mann wie Gosser derartig infrage zu stellen (anders als  die allermeisten bisher erschienenen Rezensionen). Zum anderen (oder vielleicht auch in Anschluss daran) haben sie mir empfohlen, den Artikel in einem politischeren Journal zu verlegen, wo kritischen Stimmen und Diskussionen mehr Raum gegeben werden kann.

Ich habe mir meine Gedanken gemacht, wie ich mit diesem Feedback umgehen möchte. Ich habe überlegt, ob ich anfangen sollte Texte zu schreiben, die mehr in die Breite der allgemeinen Meinung passen. Ob ich anfangen sollte ein bisschen bequemer zu werden, dem Narzissmus großer Namen gegenüber ein bisschen zärtlicher zu werden. Der Vorteil wäre, dass mein Text im Journal wäre. Der Nachteil wäre, dass das nicht mehr mein Text wäre. Und zu allem Übel stünde darunter dennoch mein Name.

Als eine Freundin des Widerstands habe ich mich für einen anderen Weg entschieden.  Ich bin der Meinung, dass es den Raum für Kritik braucht und die Perspektive einer angewandten Kulturwissenschaft. Ich bin nicht der Meinung, dass die Diskutierbarkeit von Beiträgen mit dem Zugewinn an Rezeptionsbreite abnimmt. Ich bin nicht für einen Common Sense, der nicht mehr hinterfragt wird. Ich schließe mich Doris Bachman-Medick in ihrer Forderung nach einem Ende der Konsensgemeinschaft in der Kulturwissenschaft und einer kontroversen Diskussion an (ZfK 2017/2).

Und wenn es ein Enfant Terrible braucht, um den bisherigen Möglichkeitsraum um einem neuen Spielplatz zu erweitern, bin ich gerne dazu bereit.

So here we go:

 

Rezension zu „Le Mensch. Die Ethik der Identitäten.“

„Le Mensch: Die Ethik der Identitäten“ ist eine Einordnung von subjektiver und kollektiver Identität in Deutschland und Frankreich seit den 30er Jahren im autobiographischen Stil von Alfred Gosser, dem Publizisten und emeritierten Professor für Politikwissenschaft (Institut d`Etudes Politique, Paris) und ist 2017 im Dietz Verlag erschienen.

Obwohl Gosser dem Leser eine eindeutige Absichtserklärung zum Zweck seines Werks schuldig bleibt, zirkelt er um die Frage, was Identität im Innersten zusammenhält – eine Herausforderung, der er durch einen weiten politischen Blick und dem anekdotischen Erzählen von Geschichte begegnet. Inhaltlich umreißt er den Zusammenhang von Identität und Räumlichkeit, Geschichte, Moral, sozialer Stellung, Berichterstattung und religiösen Autoritäten. Auf die Themenfelder Digitalisierung und die Bedeutung sozialer Netzwerke verzichtet Gosser, ein Vorgehen, das für einen im Jahr 2017 erschienenen Beitrag zum Themenfeld Identität von einem politikwissenschaftlichen Publizisten schwer nachvollziehbar ist.

Gosser beginnt seinen Beitrag mit einer analogen Selbstverortung. In dieser Narration zeichnet er sein Menschen- und Weltbild nach, in das er sich einschreibt. Der Leser erfährt nicht nur, wie er sich begreift, sondern auch anhand des Beispiels seiner Person, welche Felder von Identitätskonstruktion er als relevant einschätzt. So ist seine erste Positionierung „Ich bin ein Mann und keine Frau.“ Neben dem Fokus auf seine berufliche Laufbahn setzt der 1925 in Frankfurt am Main geborene Träger des Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland einen Schwerpunkt auf seine nationale Identität, die er französisch verortet und deutlich von einer deutschen Nationalität abgrenzt. Gosser beschreibt sich selbst als politischen Akteur seiner Zeit, der sich das Unterrichten, die Aufklärung und die Wahrheitssuche zum Lebensziel gemacht hat. Gegenüber Religion ordnet er sich ambivalent als „jüdisch geborener, mit dem Christentum geistig verbundener Atheist“ ein. Auch den Gesichtspunkt der sozialen Stellung greift Gosser implizit auf, indem er sein akademisches Elternhaus, seinen Status als Professor und die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erwähnt. Der Hinweis auf seine enorme Anhäufung von symbolischem Kapital steht im Einklang mit seinem Identitätsverständnis und gibt dem Leser auch einen zentralen Hinweis, wie Gosser agiert, zitiert wird und verstanden werden muss: als diskursmächtige Person der politischen Öffentlichkeit im nordeuropäischen intellektuellen Kreis des 20. Jahrhunderts.

Der Politikwissenschaftler und politische Akteur hat ein Gespür für Hierarchie und die Wechselwirkung von Lobby und Macht. Seine Ausführungen setzt er in diese gesellschaftlichen Zusammenhänge und reflektiert, welche Konsequenzen sich für ihn aus seinen Verortungen ergeben. Sein Sich-zeigen ist ein Erklären-von-Welt, sowie sein Erklären-von-Welt stets ein Sich-Zeigen ist. In weiten Teilen des Beitrags wird er nicht müde, im autobiographischen Stil über sein Erleben von Zeitgeschichte zu räsonieren und seine zu Beginn eingeführte Identitätskonstruktion weiter zu stricken, was sich zweifelsohne sowohl aus Lebensabschnitt des Autors als auch der Thematik des Beitrags ergibt.

An einigen Stellen glänzt der emeritierte Professor mit messerscharfen Analysen, indem er politische Geschichte als Leinwand für seine theoretischen Ausführungen verwendet. So erklärt er etwa den Zusammenhang von Diskurs und legitimierter Identität anhand des Beispiels der Wahl europäischer Beamter, oder die Voraussetzung von Wirtschaft für die Ausformung einer regionalen Identität, mit dem Beispiel der Entstehung der EU. An anderen Stellen nimmt sich Gosser den Raum für Anekdoten, die eine Logik des pars pro toto verlassen. Was eingeleitet wird als das historische Beispiel zum theoretischen Konzept wird zum souveränen Produzieren von Geschichten um ihrer selbst willen.

Auch, wenn die gesellschaftliche Relevanz der Betrachtungsweisen von Gosser als intellektuellen Zeitzeugen des letzten Jahrhunderts (93 Jahre) außer Frage steht, bleibt er aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ein zwiespältiger Autor. Seine Strategie, bestehende Identitätsdiskurse zu dekonstruieren mittels historischer Alternativdeutungen ist zunächst ein beeindruckendes Beispiel für die Relativität von Wahrheit und ihre Kontextverhaftung. Er zeichnet die Entstehung von kollektiven Narrativen nach und kontextualisiert, warum und für wen sie hilfreich waren. Im nächsten Schritt allerdings ersetzt Gosser die nun aufgeweichten Identitätskonstruktionen, indem er, dem gesetzten Ziel der Wahrheitsfindung folgend, sie mit neuer Schärfe füllt und eindeutiger Klarheit umzeichnet. Gosser weiß, was gut und schlecht, wahr und falsch, was deutsch und französisch, jüdisch und weiblich ist. Als würden sich hier zwei Anteile die Hand reichen, verortet und verflüssigt der Politikwissenschaftler, was der Publizist anschließend neugestaltet in Stein meißelt.

Wer „Le Mensch“ als Autobiographie, politisches Geschichtsbuch oder als ethische Diskussion liest, wird fündig werden und sich möglicherweise für die sprachliche Leichtigkeit und Präzision ohne den Verlust von Tiefe begeistern. Wer nicht mit dem Interesse an der Person Gosser, sondern mit der Erwartungshaltung einer sozialwissenschaftlichen Analyse über das Fachthema „Menschliche Identität“ an den Beitrag herantritt, der wird ab dem zweiten Kapitel das Buch zur Seite legen.

 

Alfred Gosser (2017): „Le Mensch. Die Ethik der Identitäten“, Bonn: Dietz.

Doris Bachmann-Medick (2017): Jenseits der Konsensgemeinschaft – Kulturwissenschaften im ›socio-political turn‹?, in: Till Breyer et al (Hg.): „Monster und Kapitalismus“, Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Heft 2/2017, Bielefeld: transcript.