Vierte Ethnographie: Das Sea You Festival
Das Sea You Festival ist ein Techno-Festival in Freiburg, bei dem auf 7 Bühnen an zwei Tagen (Samstag und Sonntag) von 11 – 24 Uhr internationale DJs auflegen. Die musikalische Bandbreite bewegt sich von poppigem Electro, über harten, tanzbaren Techno, bis zu Psychedelic Progressive Music (u.a. Goa). Das Festival ist neben dem Tunisee aufgebaut, weshalb es sich auch den Beinahmen „Beach Republic“ gegeben hat. Neben dem musikalischen Angebot gibt es die Möglichkeit im See zu baden, Luftboote auszuleihen, Wasserski oder Wakeboard zu fahren, sich ein Festival Make-up machen zu lassen, in der „Fashion- und Beautylounge“ einzukaufen, eine Foto-Booth mit einem elektronischen Schaukel-Pferd zu nutzen, Kettenkarussell zu fahren, eine der vielen Lounge-Areas aufzusuchen oder in der „Food-Village“ internationale Street-Food-Küche zu sich zu nehmen.
Um auf das Festival-Gelände zu gelangen, müssen wir durch einen kleinen Waldabschnitt laufen. Es ist um die 30 Grad heiß und wem nicht aufgrund der Sonne warm wird, der wird von der Masse von mehreren Tausend Techno-Fans und den donnernden Beats aufgeheizt, die bereits auf der Autobahn noch weit vom Gelände entfernt zu hören sind. In diesem Waldabschnitt beginnt bereits der Konsum: Es werden metallene Schmuckstücke für Hals, Finger und Beine von Personen in weiten Tuchhosen verkaufen, ein junger Mann bereitet für die letzte Wegstrecke Cocktails auf einem Camping-Tisch in Plastik-Bechern zu (etwas, das aussieht wie ein Mojito mit Orangen), die vorbeiströmende Gäste kaufen um sie sich in den nächsten 150 Meter einzuverleiben, Goulloise-Zigarettenverkäufer mit einem Luftballon an einer langen Stange über dem Kopf und einem Bauchladen vor dem Körper werden belagert wie der einzige offene Kiosk an einem Montag Morgen im Mannheimer Hauptbahnhof.
Becoming a Subject
Die Door-Policy am Eingang ist streng. Die Spielregeln werden geklärt und die Rahmenbedingungen umgesetzt. Verboten sind jegliche Getränke und Getränk-Gefäße, Drogen, Waffen und explosive Gegenstände. Ich muss um meinen Pfeifenstopfer bangen, mein Cherry-Tabak wird kritisch beschnüffelt und meinen Bambus-Kaffee-Becher muss ich abgeben. Ein Stoffband in türkiser Farbe um mein Handgelenk markiert mich als Mitspielerin für zwei Tage. Um das werden zu können habe ich vor Monaten bereits eine stattliche Summe an eine virtuelle Bank überwiesen. Als ich einige Tage später von meinem Besuch erzähle, werde ich nach dieser Trophäe gefragt. Da ich es zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschnitten habe, erhofft sich die Fragende, dass ich es ihr überlassen könnte, es wäre ihr absoluter Traum gewesen, eben dieses Festival zu besuchen und mit dem Bändchen dieses Statement der Zugehörigkeit am Arm zu tragen (so hat sie es übrigens nicht formuliert).
Ich passe (wie bereits auf einigen anderen Erst-Exkursionen) nur einigermaßen ins Bild. Ich bin klar erkennbar Touristin anstatt Heimgekehrte. Wenn ich wollte, könnte ich mich vor Ort mit passenden Objekten eindecken, spontanes Subjekt der Szene werden und konsumieren, was es heißt hier Mitglied im System zu sein. Es gibt eine vorherrschende Ästhetik, die nicht gewaltsam aber durchaus dominant durchgesetzt wird. Ein beliebtes Outfit einiger Frauen ist eine Jeans-Hotpans mit Netzstrumpfhose und ein BH oder Bikini-Oberteil, dazu Doc Martins oder andere schwere Boots und die langen Haare entweder zu Corned-Rolls geflochten, in dünnen Rastas zu einem hohen Zopf gebunden oder in zwei Sailor-Moon-Knoten auf dem Hinterkopf eingedreht. Der zugehörige Schmuck ist groß, grob und golden. Einige Frauen erinnern mich an eine Kreuzung aus Azteken-Königin und Tomb Raider auf einem Endzeit-Cosplay.
Viele Männer tragen nur Shorts zu der sicherlich mühsam erarbeiteten Uniform eines durchtrainierten Bodybuilder-Oberkörpers und einem über die Schulterblätter weit aufgespannten (permanenten) Tattoo, das häufig einen Körper mit ausgebreiteten Armen oder Flügeln abbildet. Vor allem dadurch, dass ich einige dieser Männer-Gruppen quasi in V-Konstellation durch das Festival-Gelände streifen sehe, muss ich an ein Sean Paul Music-Clip denken. Ich bin überrascht über dieses Produzieren eines Standards, der sich deutlich von den durchschnittlichen Körperformen an einem zufällig ausgewählten Badeort in Deutschland abgrenzt. Ich erwische mich beim Hypothetisieren über den Zusammenhang von Techno-Szene, Fitness-Studios und dem Streben nach einem klinisch-ästhetischem Körperbild.
Häufig zu sehen ist auch eine Kombination aus einfacher, gedeckter Grundfarbe und einem Glitzer-Glamour-Funkel-Add-on. Die Farb-Palette bewegt sich zwischen Schwarz und Grau-Tönen, Weiß und Beige oder hellblauem Jeans-Stoff als Grundfarbe, zu der glitzernde Farbflächen, Pailletten, Ketten und Perlenbesatz von Gold, Silber und (seltener) Roségold oder die Farben des Regenbogens kommen. Dieses Glitzern wird entweder auf der Kleidung oder auf der Haut als non-permanentes Tattoo in Form von Mandalas, Ornamenten oder Ringen getragen.
Wer diese Tattoos nicht bereits mitgebracht hat, kann sie beim Stand für Festival-Make-Up kostenlos erhalten. Dies gilt nicht nur für die Stil-Experten ihrer eigenen Szene sondern ebenso für Festival-Klassiker wie bunte und einfarbige T-Shirt mit kurzer Jeans, Sommerkleidchen und Blumenkränzchen. Auch diese Kleidung kann, wer sie nicht mitgebracht hat oder seine Subjektivation als Mitglied des Festivals noch weiter voran treiben möchte, in der „Fashion- und Beautylounge“ erworben werden – inklusive Blumenkranz-Flechten. Um das virtuelle Publikum über den Konsum dieser Subjektivation in Kenntnis zu setzen, können die Besucher ein Foto vor einem drei Meter langen Paar „Angel Wings“ in lila-blau-weißer Farbe ein Foto machen. Wer bei Instagram #Seayoufestival sucht, findet eine Vielzahl an eben dieser Präsentationen, eine Manifestation vom Moment der Zugehörigkeit und Erlebens: Mensch vor Flügeln, Mensch mit Menschengruppe vor Flügeln, Mensch mit lustiger, ernster, erotischer, extatischer Pose vor Flügeln und so weiter.
Creating Fantasy
Auf diese Weise stellt das Festival (und damit meine ich sowohl die Veranstalter als auch die wechselwirkende(n) Szene(n)) sicher, dass einige Elemente als homogenes Corporate Design sichtbar werden und der Spielplatz „Sea You Festival“ multi-sensual erfahrbar wird für die Besucher und ihr Publikum, akkustisch, der visuell bis zur Habtik am eigenen Leib.
Durch diese Ästhetik tragen die Teilnehmenden zur Herstellung des hyperrealen Ortes „Sea You Festival“ bei. Sie bilden und bespielen gleichzeitig eine Kulisse, die insgesamt verschieden Facetten eines Traumlands ergeben, zusammen mit Objekten wie den sechs Meter hohen Figuren des Helmnot Theaters und ihren ausdrucksvollen, langsamen Tanzbewegungen. In fantasievollen Kleidern aus glitzernden Stoff mit mimisch unbewegten Masken und gespenstig langen Armen rahmen sie den Raum vor der Hauptbühne nach links und rechts hin, als ich sie das erste Mal sehe. Die Veranstalter schreiben hierzu:
„Mit ihrer blendenden Schönheit ziehen [sie] alle Aufmerksamkeit auf sich. In die Farben Gold, Rot, Silber und Türkis getaucht, werden sie zum zentralen Mittelpunkt des Geschehens und symbolisieren in ihren schillernden Farben und seidigen Kleidern die Poesie von Träumen und Phantasie. Ihre Bewegungen sind sanft, majestätisch, enthoben von allem Irdischen. Die riesigen, androgynen Figuren bewegen sich – wie von magischer Hand geführt – poetisch durch das Gelände. Der Zug der farbig-schillernden Majestäten ist ein märchenhaftes Highlight und ein unmittelbares Erlebnis zum Berühren, Staunen und Träumen.“
In eine ähnlich fantasievolle Richtung geht die Performance der „Windriders“ aus dem selben Theater. Ich sehe ihre 12 Meter langen goldenen Tücher wie enorme Flammen am Samstag Abend links und rechts von der Hauptbühne in den Nachthimmel schlagen. Von unten in orangenem Licht angestrahlt und mit einem Windgenerator in die Höhe geblasen sieht der Stoff in meinen Augen aus wie ein epischer Feuerstrahl, der wild in die Höhe flackert. Auf ihrer Website schreiben die Veranstalter:
„Mit [den] vertikal aufsteigenden Tüchern kreieren Tänzerinnen […] fantastische Himmelsbilder. Gigantische Stoffe wiegen sich im Wind, sind Luftschönheiten, formen immer wieder neue Illusionen – poetisch, bisweilen surreal und kraftvoll zugleich.“
Ebenso fantastisch ist das psychedelische riesige Goa-Zelt am Rand des Sees, dass aus mehreren übereinander stehenden Flächen in schwarz und weiß ein enormes Mandala formt. Dass direkt daneben aufblasbare Einhörner, Regenbogen-Prints und pinke Flamingo-Boote für bis zu 6 Personen zu sehen sind, Installationen, die ebenso Hipster wie aus Alice im Wunderland erscheinen, zeigt die Parallelität von Fantasie-Angeboten und Szene-Überschneidungen auf dem Festival. Entsprechend divers sind auch die Teilnehmenden, deutlich diverser als die Gothic Szene, dich ich bei Marilyn Manson oder im Super Schwarzen Mannheim untersucht habe.
Das Sea You Festival ist ein massentauglicher Spielplatz. Es haben auch Pop-Größen wie „Alle Farben“ ihren Platz im Line-Up, wenn auch nicht auf der Hauptbühne. Aber wie mit allen Spielplätzen ist auch das Sea You Festival eine Anamorphose: Nur der begehrende, zugewandte, bereitwillige und interessierte Blick kann den Spielplatz als solchen erkennen. Das gesamte Arrangement ist nur dem Kenner und dem Wollenden sichtbar. Es braucht ein Mindestmaß an Resonanz, diesen „schiefen Blick“, um ihn als einen fantastischen Ort zu begreifen.
Alle anderen werden wohl einen lauten, dröhnenden, vollgestopften, schmutzigen Ort voller sonderbarer Menschen, sonderbaren Praktiken und Regulierungen sehen und sich wundernd fragen, was hier von Morgens bis Abends gespielt wird.
Everybody loves a Carneval
lautet ein Songtitel von Fatboy Slim. Warum soll das so sein? Die (Ver)Kleidung, die Musik, die Party, die Gemeinschaft, die Extase… Der einzelne Akteur wird seine ganz eigenen Gründe haben, warum er oder sie Teil dieser sozialen Praxis – dieses Spiels – sein möchte. Folgt man den Theorien von Andreas Reckwitz (2017: „Die Gesellschaft der Singularitäten“, Suhrkamp.) spielt mindestens eine Form der Affizierung und die Zuschreibung von Wert eine Rolle. Die TeilnehmerInnen haben ein Gefühl zum Festival entwickelt, vermutlich ein positives wie Begeisterung, Faszination, Freude, Gemeinschaft etc. Und sie empfinden entsprechend das Festival als wertvoll, kostbar, besonders. Das Festival wird zu einem kulturellen Gut, einer Singularität. Daher, so Reckwitz, rührt die Motivation zu kommen und zu spielen – und eine betrachtliche Summe Geld zu zahlen, vorher und „in Time“.
Das Sea You Festival ist ein Ort, an dem jeder Gast eine Einladung bekommt, „dazu zu gehören“. Wer einmal die strenge Kontrolle am Eingang überwunden hat, bekommt zuhauf Rollenangebote, Konsumoptionen und Praxisräume, zu tun, was auf einem Techno-Festival scheinbar zu tun ist.
Diese Einladung ist erstmal ein Angebot aber auf eine gewisse Weise ist es auch ein Gebot. Wer keine dieser Konsumoptionen in Anspruch nehmen möchte, weder ästhetisch, noch praktisch, noch normativ, der fällt raus aus der Anamorphose. Die Soziale Konsumpraxis ist ein konstitutives Element des Spielplatzes, Teil dessen anamorphetischen Form und deshalb ist das Sea You Festival, wie jeder andere Spielplatz auch, nur für denjenigen erkennbar, der mitmacht. Eine Wasserschlacht im See ist von außen nicht verstehbar, vielleicht albern oder fragwürdig. Der eigentliche Sinn dessen wird erst erkennbar, wenn ich histerisch kreischend jemanden mit einer enormen Wassermenge treffe oder getroffen werde – und dabei Spaß habe.