Sozial – Material – Digital: Was ist ein Netzwerk?

Ein Kerngedanke der Systemischen Theorie, mit der wir auch bei [tu:]Coach arbeiten ist, dass Individuen in Netzwerken leben und arbeiten. Wie sich Personen selbst empfinden und wie sie handeln ist Ergebnis des Austauschs mit diesen Netzwerken – ihren Systemen.

Es stellt sich die Frage, was diese Netzwerke sind und woraus sie bestehen.

Diesen Netzwerken können sie von Geburt aus angehören (die Soziologinnen Peggy Levitt und Nina Glick Schiller nennen diese Form der Zugehörigkeit being) oder die Zugehörigkeit kann im Laufe des Lebens gewählt werden und zeichnet sich durch eine aktive Teilnahme aus (Levitt und Glick Schiller nennen dies belonging).

Netzwerke wurden in der Sozialwissenschaft zunächst physisch und „in Echtzeit“ gedacht, also Personen, die sich face-to-face treffen, weil sie ein gemeinsames Anliegen haben, wie etwa Familien, Vereine, Unternehmen, Städtegemeinden, Nationen, Branchen, aber auch politische Lobbys, musikalisch oder ästhetisch ähnlich ausgerichtete Gemeinschaften, Gruppen einer gemeinsamen Weltanschauung etc. Mit dem Aufkommen des Internets und der digitalen Revolution wurde dieses Verständnis durch eine weitere Option ergänzt: den digitalen Netzwerken, etwa Foren und Chatrooms, Online-Games, später soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram oder mobile Chats wie WhatsApp. Bis zu den 2000er Jahren wurden diese Netzwerke als allein menschlich verstanden und zwischen „digital“ und „real“ unterschieden.

Mit dem Begriff der Multitude plädierten der Politikwissenschaftler Antonio Negri und der Literaturwissenschaftler Michael Hardt 2004 für die Auflösung des Dualismus digital-real. Dies ist Ergebnis ihrer Analyse über die heutige Produktion von Wert, bei denen „Arbeitszeit und Freizeit in eins [fallen], die Herstellung von Affekten und sozialen Bindungen durch Kommunikation […] gegenüber der klassischen Warenproduktion an Bedeutung [gewinnt]. Es werden nicht nur Produkte produziert, sondern das soziale Leben als solches.“ (Beuerbach: 104). Bei der Multitude handelt es sich um einzelne, unterschiedlichste Personen (sogenannten Singularitäten), die sich in einem Netzwerk bei einem gemeinsamen sozialen Handeln verbinden und auf diese Weise eine „Vielheit“ werden. Netzwerke werden hier gleichzeitig digital und material als zwei Schauplätze der selben Handlung verstanden.

Bruno Latour als ein prominenter Vertreter und Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie löst 2010 schließlich auch den Dualismus Mensch-Ding auf, indem er Netzwerke als die Verknüpfung von Akteuren (handelnden Personen) und Dingen (beispielsweise ein Smartphone oder ein Stromleiter) definiert. Andreas Reckwitz ergänzt diese Definition 2017 noch weiter und spricht von fünf Einheiten, die das Soziale (hier: die Netzwerke) ausmachen: Objekte (also Dinge), Subjekte (Personen, die einer Gruppe zugehörig sind), Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive (37).

Wenn wir in der Systemik also von der Bedeutung des Umfeldes sprechen und der Eingebundenheit in Netzwerke, dann sind damit eine ganze Bandbreite an Facetten bedeutsam: Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive, die gleichzeitig digital und physisch existent sind. Diese Betrachtungsweise führt uns von einem Kulturpessimismus weg, der eine zunehmend digitale Interaktion als degenerierend bewertet.

Unabhängig davon, welche neuen Möglichkeiten und Risiken durch diese Entwicklung entstehen, ob es unsere Großeltern dies für gut heißen oder welche neuen Formen des Kapitalismus dadurch erwachsen, ist es ein wichtiger Schritt zunächst einmal anzuerkennen, dass soziales Leben de facto auf diese Weise stattfindet. Wer eine Situation, eine Handlung, eine Person eine berufliche Entscheidung oder eine politische Entwicklung in den sogenannten Industrienationen verstehen möchte, der tut gut daran, all diese Bereiche zu berücksichtigen.

 

Literatur:

Jan Beuerbach (2018): Kollektive ohne Masse: Das Verhältnis von User*innen-Datenbanken und Individuum in: Thomas Telios et al (Hrsg.): „Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft“, Jg. 4, Heft 1/ 2018, Bielefeld: transcript, S. 101-128.

Bruno Latour (2010): „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“, Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft.

Peggy Levitt und Nina Glick Schiller (2004): „Conceptualizing Simultanity: A Transnational Social Field Perspective on Society” in IMR, Nummer 38, Heft 3/ Herbst 2004: S. 1002-1039.

Andreas Reckwitz (2017): „Die Gesellschaft der Singularitäten“, Berlin: Suhrkamp.