Krank funktioniert für eine Großzahl der Nutzer dieses Wortes in einem dualen System: krank oder gesund. Krankheit wird als die Abwesenheit der Gesundheit bewertet und Gesundheit als der Status, in dem alle Menschen „normalerweise“ durch diese Welt laufen. Ob jemand krank ist, stellt ein dafür ausgebildeter Fachwissender fest, jemand der nach ausgewählten Kriterien und Indizien die Patientin untersucht und anschließend sein Urteil fällt. Wer krank oder gesund ist, entscheidet die Ärztin. Formal gesehen wird derselbe Mensch in dem Moment vom gesunden zum kranken Menschen, in dem die Ärztin das entsprechende Formular ausfüllt. Das gilt sowohl für die Grippe, als auch für die Depression. Und je nachdem, wie ihre Entscheidung ausfällt, wird der Rest des Arbeitstages im Bett verbracht oder die Karriere als Lehrer oder Polizist an den Nagel gehängt.
Krank zu sein oder gar eine „Krankheit zu haben“ ist ein besonders wirkungsvolles Label. Es kann hilfreich sein, weil es eine Person in einen besonderen Status versetzt, in dem eine besondere Ordnung herrscht – sie wird geschont vor manchen Anstrengungen oder Belastungen, bekommt eine zugeschnittene Behandlung und Unterstützung: etwa Drogen, Pflege, Freistellungen, Sonderregeln, Erlaubnisse, Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit, und nicht zuletzt bekommt das kranke Kind von seiner pflegenden Mutter besonders viel Liebe. Die Kranke ist mit mehr Macht, mehr Möglichkeiten, mehr Ressourcen ausgestattet. Krank sein ist ein bisschen wie adelig sein, nur ohne Titel und möglicherweise mit mehr Leiden. Wäre da nicht der Umstand, krank zu sein, wäre krank sein eine wunderbare Sache.
Eine andere Geschichte ist es, wenn es um psychische Gesundheit und Krankheit geht. Personen, die als psychisch krank diagnostiziert wurden, erleben oft auch einen Verlust der eigenen Autonomie, da sie häufig zwangsweise von manchen Tätigkeiten ausgeschlossen und nicht als voll zurechnungsfähig bewertet werden. Kranke – und insbesondere psychisch Kranke – werden von einer gesellschaftlichen Mehrheit als nicht verantwortlich eingeschätzt; weder schuldfähig noch in sonstiger Weise mit Aufgaben oder Verantwortung belastbar. Diese Schuldentlastung gilt sowohl für die Kranken als auch für das Umfeld der Kranken. Keiner ist Schuld (keiner kann etwas ändern), einer ist halt krank.
Psychisch krank als Label beeinträchtigt aber nicht nur die Kompetenzvermutung der anderen, sondern auch die sogenannte Kranke selbst wird an ihrer eigenen Wirksamkeit zweifeln. Sie übernimmt den Diskurs, der über sie geführt wird und strickt ihn für sich selbst weiter. So betrachten manche ein psychisches Symptom wie Angst wie eine Grippe, die unvorhersehbar und plötzlich über denjenigen kommt, der Pech gehabt hat. Kann man nichts machen, außer Stillhalten und Medikamente nehmen. Für den Moment erscheint dies wie eine orientierungsgebende Entlastung. Ich bin nicht komisch, ich bin krank. Auf längere Sicht überwiegt die empfundene Unfähigkeit, die Ursachen außerhalb einer unveränderlichen Fehlfunktion zu finden und zu lösen. Es ist ein enormer Unterschied für die empfundene Chance auf Heilung, ob ein depressives Symptom als Ergebnis einer Lebenssituation oder als neuronale Unterfunktion verstanden wird. In dem Fall kann „krank sein“ vor allem hinderlich und blockierend erlebt werden.
Es gibt zwei Schlussfolgerungen, die ich hier aus Systemik und Kulturwissenschaft ziehen kann: Erstens wird aus systemisch-konstruktivistischen Betrachtungsweise psychisch gesund / krank zu keiner Charakter- oder Personeneigenschaft, sondern zu einer aktuellen Wetterlage. Ich bin nicht per se krank, nicht als Identität krank. Ich bin nicht alleine „gestört“, sondern ich, mein Umfeld und unsere Bewertung, das „große Ganze“ sind gerade oder seit einiger Zeit unharmonisch „gestört“ miteinander. Die Systemik geht davon aus, dass es dafür gute Gründe gibt und es gilt, diese zu finden. Und dann gibt es gute Lösungen.
Zweitens ist „krank“ sein kulturwissenschaftlich betrachtet eine ebenso wirksame, wie selbstverständlich hingenommene Kategorie, die manche Türen öffnet. Der Weg von „sich nicht wohl fühlen“ zu „krank sein“ führt durch das Wartezimmer und beschreibt auch die Machtstrukturen, wie wertvolle Ressourcen wie Therapie, Zugang zu Medikamenten, freie Zeit, finanzielle Unterstützung etc. im bürokratischen Apparat verwaltet werden. Krank sein ist unter diesem Aspekt ausgesprochen sinnvoll und hilfreich.
Fazit: Der Placebo-Effekt hat uns gelehrt, dass der Glaube an die Wirksamkeit einer Medizin erstaunliche Ergebnisse erzielt. Der Glaube an die eigene Wirksamkeit bleibt dabei wohl die wichtigste Unterstützung im Prozess. Für alle anderen Unterstützungen lohnt es sich, krank zu sein.