Rauschen und Spielen

Das Super Schwarze Mannheim. Ethnographie auf einem Spielplatz.

Vorwort

Im Rahmen meiner Forschung zu Tabubrüchen und Grenzüberschreitungen untersuche ich Orte, an denen Personen die Handlungsnorm ihrer „alltäglichen Welt“ verlassen. Sie übertreten den Rahmen ihres „Möglichkeitsraumes“, um stattdessen das zu erleben und zu konsumieren, was ihnen sonst unmöglich ist. Anstatt sich aber komplett in den verbotenen und unter Umständen gefährlichen „Unmöglichkeitsraum“ zu begeben, betreten sie „Spielplätze“, die ihnen unter der Prämisse einer Simulation zugänglich machen, was rechtlich, moralisch oder gar physikalisch „eigentlich nicht geht“. Zu diesen „Spielplätzen“, die sich durch das zeitlich beschränkte Eintauchen in eine alternative Realität auszeichnet, führe ich gemeinsam mit kleinen Forschungsteams Exkursionen durch.

Ich versuche den „Spielplatz“ als plastische, materiale Plattform zu beschreiben, die Besucher letzten Endes mit persönlichen Fantasien füllen. Ich berichte hierzu, was mir während der teilnehmenden Beobachtung aufgefallen ist, was für mich multi-sensual wahrnehmbar wurde und welche Geschichten mithilfe dessen häufig erzählt und inszeniert wurden.

Zuletzt hat uns diese Forschung zum Super Schwarzen Mannheim geführt.

Das Super Schwarze Mannheim (SSM) ist eine Szene-Party, die an jedem ersten Samstag im Monat auf dem Fabrikgelände der 1891 erbauten Seilerei, a.k.a. MS Connexion Complex in Mannheim Neckarau stattfindet. Die Szene selbst bezeichnet sich als „Dark“, womit sowohl die Musik, als auch die körperliche und szenische Materialität beschrieben werden kann. Die Beschreibung dieser Materialität und das Einfügen dieser Beobachtungen aus dem Feld in meine Überlegungen zum Möglichkeits- und Unmöglichkeitsraum sind das Ziel dieses Berichtes aus der Feldforschung.

Das SSM ist weder die einzige Dark Party in Mannheim noch ist Mannheim der einzige Ort an dem Super Schwarze Party-Reihen stattfinden. Die Veranstalter Helter Skelter, was soviel wie Holterdipolter heißt und auf die Morde an US-Celebrities durch die Manson Family Ende der 60er Jahre anspielt, sind im MS Connexion Komplex (oder kurz Connex) ebenfalls mit Metall Konzerten und Dark Electronic Partys präsent oder verweisen beispielsweise auf das Super Schwarze Freiburg. Aber das SSM ist in der Quadrate-Stadt und Umgebung die einzige Dark-Party die in ihren räumlichen Dimension außer Konkurrenz steht. Das Event, zu dem bei unserem Besuch schätzungsweise 3000 Gäste erschienen sind, findet auf fünf Floors auf zwei Etagen in dem historischen Fabrikgebäude statt. Zudem ist während der Party im Untergeschoss der Location und durch einen separaten Eingang erreichbar das „Jails“ offen, das als der „Spielplatz des Super Schwarzen Mannheims“ (SSM Playground) zu einer SM und Fetisch-Nacht einlädt.

 

Coming to a Party

Die Location öffnet um 22 Uhr ihre Tore und um 23 Uhr sind bereits alle Floors betanzt. Es war etwa zu dieser Zeit, als sich unser kleines Feldforschungsteam, bestehend aus mir selbst und meinen zwei „Partner in Crime“ Anne und Flo ebenfalls ankamen. Neugierig auf die kommenden Überraschungen reihten wir uns in die stetig wachsende Schlange vor dem Club ein. Wir waren unsicher ob wir die passende Bekleidung in unseren Schränken gefunden hatten, ein Thema, dass bereits den Abend zuvor gefüllt hatte. Wir hatten nicht. Mein Blick blieb an den grünen und blauen Hinterköpfen zwei junger rauchender Frauen vor uns in der Schlange hängen. Sie hatten ihre Haare hochgebunden und gaben so den Blick auf ihre bunt gefärbten Undercuts frei. Ich stellte fest, dass es bei weitem nicht das einzige war, dass sie freigaben. Sie trugen schwarze Lackunterwäsche, darüber ein langes schwarzes Kleid aus weitem Netz und wenig Faden, dazu klobige schwarze Boots. Hätten wir näher an ihnen gestanden, hätte ich die Tattoos auf ihrem Rücken nachzeichnen können. Eine schnickte ihre gerauchte Kippe in den Schnee und ich schnickte meine Hoffnung, nicht allzu sehr als „Fremde“ aufzufallen hinterher.

Wir waren aufgeregt und neugierig, irgendwo zwischen begeistert, fasziniert und überfordert. In unseren Kompensationsbemühungen witzelten wir darüber, ein „Ich lerne noch“ Schild auf unsere zu bekleideten Oberkörper aufzukleben, nachdem wir den Eintritt von 10 Euro gezahlt hatten und uns für die Garderobe anstellten. Aber wir verzichteten darauf, obwohl ich mir mit dem ausgeliehenen King Kerosin Shirt und meinem schwarzen Minirock über der Spitzenstrumpfhose wie die spießige Bibliothekarin der Veranstaltung vorkam. Flo scherzte, als ich meine Jacke auszog um sie abzugeben, ob das schon alles sei, was ich plante auszuziehen. Das war so wenig hilfreich, wie es andererseits angemessen gewesen war. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt des Abends für mich keine denkbare Option war, noch irgendetwas von dem nach meinem Ermessen ohnehin recht knappen Outfit auszuziehen, kann ich aus jetziger Warte zumindest behaupten, ich wäre wohl kaum aufgefallen zwischen den anderen Super Schwarzen Partygästen. Nach dem Modell des amerikanischen Erlebnispädagogen Karl Rohnke hatte ich meine Comfort Zone bereits hinter der Garderobe verlassen und schwamm durch die Weiten meiner Stretching Zone in den Club.

Um ein Gefühl für die Party zu bekommen und im Zuge unserer Passage-Rite, dem Überwinden des Vorher-Momentes der neugierigen Fremden zu dem Nachher-Moment der tatsächlich teilnehmenden Beobachter dieser Gothik-Metall-Industrial-New-Wave-Fetisch Party, beschlossen wir, erstmal alle Floors zu besichtigen. Und mit „besichtigen“ meine ich unsere sukzessive Integration in die Szenerie. Oder auch: fool, rave, shake and shout. Beim ersten Durchstreifen des Geländes musste ich mit meinem ambivalenten Annäherungs- und Distanzierungsdrang verhandeln. Einerseits konnten wir uns der eindrucksvollen Szenerie mit ihren übervollen Eindrücken nicht entziehen, andererseits hingen wir noch mit einem Gedankenfetzen an dem Möglichkeitsraum der alltäglichen Realität, die uns bis zum Abend begleitet hatte. Die Dissonanz vom einen zum anderen hätte nicht größer sein können.

Es war eine Mischung aus dem Eingeständnis, deutlich mehr Anklang an der Party zu finden, als wir es uns vorgenommen hatten und der kleinen Stimme im Kopf, die all die Überschreitungen dessen beobachtete, was wir für normal hielten und die sich in meinem Fall äußerte mit einem repetitiven kleinlauten „Wow“, etwa alle fünf bis zehn Minuten, die erste halbe Stunde lang. Wir bekamen in etwa ein Gefühl dafür, wie sich Alice im Wunderland fühlen müsste, wenn sie mit einem Satz durch die Hasenhöhle auf die andere Seite in die Zauberwelt stürzt. Natürlich hatten wir zuvor Fotos von den ausgefallenen Kleidern, dem künstlerischen Make-Up und der cineastischen Atmosphäre gesehen. Wir waren aber davon ausgegangen, es hielt sich dabei um ausgewählte Darstellungen weniger, statt zufällige Schnappschüsse in die Menge der Meisten. Wir taten also, was Reisende häufig tun, wenn sie fremd sind: wir mischten uns unter die Menge, versuchten uns nur heimlich gegenseitig auf die ausgefallensten Begebenheiten hinzuweisen und natürlich völlig souverän und gelassen den Floor zu übernehmen. Fake it, till you make it.

Es dauerte dennoch nicht lange, bis uns das Super Schwarze Mannheim in seinen Bann gezogen hatte und wir in dem Strudel der alternativen Realitätsangebote versunken waren. Was sich anfangs durch seine deutliche Andersartigkeit zum Möglichkeitsraum auszeichnete, wurde in meiner Wahrnehmung in einer enormen Geschwindigkeit zur selbstverständlichen Normalität dieses Raumes, dieses Spielplatzes, schwer vorstellbar, dass es jemals eine andere Welt gegeben hatte.

Warum war das möglich? Und warum ging das so schnell? Neben hier schwer zu überprüfenden Kriterien wie persönliche Neigung, Offenheit oder Begeisterungsfähigkeit habe ich eine weitere Hypothese im Angebot: Wegen der Lautheit. Die hyperreale Lautstärke dieser Szenerie legte sich wie ein Rauschen auf die gewohnten Bahnen der Bewertung. Sie übertönte alle gekannten Klänge des Möglichkeitsraumes mit einer solchen Wucht, dass es zum einen möglich wurde, die inneren Stimmen der Irritation und der Distanzierung zu überhören und zum anderen unmöglich erschien, dem lauten Schreihals von alternativer Realität nicht zu glauben. Der Rausch des Super Schwarzen Mannheims überflutete jeden Zweifel an der Korrektheit und Angemessenheit des Raumes und schwappte wie die steigende Flut über die Ufer des eigenen Standpunktes, den wir doch als so wunderbar erhöht gewähnt hatten. Auf einmal ist da nur noch Meer. Und es bleibt nur die Wahl zwischen ertrinken oder mitschwimmen.

Rauschen und Spielen

Die Lautheit des Clubs war nicht allein auf die akustischen Reize beschränkt. Auf allen sinnlich wahrnehmbaren Kanälen und darüber hinaus in der Anspielung auf das, was immer unmöglich bleiben wird, war das SSM laut. Wir versuchen die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und maximal herstellbare Objektivität zu gewährleisten, indem wir immerhin mit drei Körpern und Gehirnen anwesend waren.

Hören

Zunächst sei hier der offensichtlichste aller Reize benannt: das Hören. Auf den fünf Floors war „Dark Music“ in unterschiedlichsten Facetten, Geschwindigkeiten und Stilistiken zu finden. Nach meinem Erleben war der Batcave Floor sowohl der kleinste, als auch leiseste und leerste Floor. Etwas lauter, deutlich voller und fließend atmosphärisch war der Futurepop Floor. Getanzt wurde hier zu Prodigy, Depeche Mode und Massive Attack. Der Gothic Mainfloor war drückend laut, pulsierend und eindringlich. Die Musik hier war ein breiter Mix aus Rock, Post-Punk, Glam Rock, Psychedelic Rock und Hardrock. Zu hören waren ältere Hits zum Beispiel von Rammstein, Linkin Park und the Cure, aber auch aktuelles von Muse. Auf dem aggressiv-dominanten Metall-Floor war an Seitengespräche nicht zu denken. Zunächst in kleiner Runde und später unter vielen Gleichgesinnten feierten die Partygäste zu reißenden, kraftvollen Klängen, unter anderem von Marilyn Manson, Combichrist, System of a down, Pendulum, in Flames und Dope. Der Industrial Floor war ohrenbetäubend. Zu Progessive Metall und mechanischen Techno-Sounds, mal mehr Geräusch als Musik, mal durchdringender, hämmernder Beat, machte der DJ dem Floor in der Kolbenhalle der alten Fabrik als „Industrial“ erfahrbar. Der kaleidoskopisch-archaische Sound versetzte die Tanzenden in Trance oder Ekstase.

Zu hören gab es darüber hinaus das ewig wogende Meer aus Stimmen und das konstante Klappern von hohen Absätzen auf hartem Boden, überall dort, wo die Musik es zuließ. Im gesamten Connex ist kein Ort der Stille zu finden, das Rauschen der Klänge begleitet den Besucher wie ein bereitgestellter Escortservice von dem Moment vor der Tür bis zum Verlassen des Geländes nach einer langen, gemeinsamen Nacht. Das akustische Rauschen begrüßt Sie recht herzlich als Wegbereiter in die „Second Stage“. Es drückt den Möglichkeitsraum aus dem Kopf, wie ein Kind, dass sich die Ohren zuhält und lauthals gegen seine eigenen Gedanken anschreit „ICH KANN DICH NICHT HÖREN“.

Sehen

Welche Geschichten auch immer akustisch im Super Schwarzen Mannheim angedeutet wurden, sie wurden visuell schillernd, eindrucksvoll und dynamisch nacherzählt. Die Besucher vermitteln und konsumieren diese Geschichten durch die Komposition aus Szenerie, Akteuren und Dramatik. Wie mit allen Zeichen ist es letztendlich der Betrachter, der die Bedeutung in die Symbole legt. Welche Symbole uns aufgefallen sind und welche Bedeutungen wir in ihnen gesehen haben, sei hier berichtet:

Das Connex ist voller Begegnungsräume für die dramatischen Momente von Sehen und Gesehen werden und mit dramatisch meine ich weniger ein melodramatisches Stilmittel, als vielmehr die aristotelische Dramatik der Inszenierung einer Begebenheit. Es gibt die Orte des nebeneinander Seins mit eher subtilem Kontakt, wie etwa auf den Floors oder an der Bar. Aber darüber hinaus ist das verschachtelte Gebäude auf zwei Etagen voller „Zwischenräume“ des „sich über den Weg Laufens“. Während auf den Tanzflächen zumeist ein Leben und Lebenlassen der überwältigenden Vielfalt koexistiert, sind es diese Übergangsräume, an denen die Geschichten erzählt werden. Anders, als ich es von sonstigen Partys kenne, sahen mir die Vorbeilaufenden direkt und lange in die Augen. Ich sah stechend weiß-graue, gelbe oder violette Pupillen, fantasievolle Masken und schwarz überzogene Augenpartien. Es entstand ein kurzer Moment der Intimität, der mich irritierte, weil ich ihn nicht verstand und ich nicht einschätzen konnte. Ich war für einen Augenblick im Bann der Geschichte, die mir der oder die Vorbeigleitende erzählt, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, ohne das geringste Aufflackern eines Lächelns, ohne einen Anlass außer: ich bin da und du bist auch da.

Es gibt ein paar Geschichten, die sich wiederholen an diesem Abend. Zum einen war da die Steampunk Victorian Sci-Fi Geschichte. Im schwarzen Gehrock mit der Ausstattung eines Weltraum-Kriegers erschienen manche, als treffe Van Helsing auf die Ghost Busters im Buckingham Palace des 19. Jahrhunderts. Ein Mann mittleren Alters mit schwarzem Zylinder hatte seine langen Haare unter dem Gummiband seiner kreisrunden Fliegerbrille eingeklemmt. Er trug einen bodenlangen schwarzen Ledermantel, der von oben bis unten mit silbernen Nieten und Schnallen benäht war und dessen Unterrock weit flatterte, während er sich auf der Tanzfläche bewegte und dann energischen Schrittes von dort aus zur einem unbekannten Ziel steuerte. Gerade bei Gästen wie ihm, die so in ihrer nächtlichen Rolle aufgingen, fragten wir uns, was er wohl beruflich im sonstigen Leben, in seinen „Möglichkeitsräumen“ machte. Wenn der Spielplatz der „andere Ort“ ist, würde der Zylindertragende Welten- und Zeitenreisende dann etwas völlig anderes machen, wie etwa eine Anwaltskanzlei zu betreiben oder als Sales-Manager Fischstäbchen in Süd-Europa vertreiben, oder wäre es vielmehr eine verwandte Arbeit, die einen neuen Anstrich, eine neue Interpretation erfährt, wie etwa ein Angestellter der Bahn, ein Schaffner vielleicht oder ein Lock-Führer?

Ein anderer junger Mann trug einen braunen Shaolin-Mönchs-Rock und war wie Jacky Chan beim Training oberkörperfrei auf der Tanzfläche beschäftigt. Vielleicht war es seine Realisierung einer Fan-Fiction, etwa: Wie wäre es, wenn ich wie Matrix Held Neo im Club tanzen und kämpfen würde?

Was wir auch sahen war das „Victorian“ ohne das „Sci-Fi“, wie etwa bei der Frau, die den gesamten Abend über in einem der genannten „Zwischenräume“ mit einem gewaltigen Ballkleid mit Reifrock aus schwarzer Spitze und einem ebenso imposanten Federhut am Geländer der Treppe im Obergeschoss stand, stets in ein Gespräch vertieft und stets ein Augenzwinkern verschenkend. Ihr haftete eine Eleganz und vornehme Koketterie an, die ihrem Kleid entsprechend bestens der Ausdrucksschule junger Lords und Ladys des europäischen Adels entsprungen sein könnte.

Weitere Gäste trugen Gasmasken, Latex- oder Lederhandschuhe, Nietengürtel, Schutzwesten, Neonhaarbänder, Lackhosen, Gummiboots oder die Kleidung von Holzkohle scheffelnden Fabrikarbeitern in Unterhemd, schweren Arbeitshosen und rußigem Gesicht.

Eine andere Geschichte war die Erzählung von Macht und Gewalt. Einige Personen waren in Uniformen gekleidet oder trugen Kleidung, die mit einer geradezu totalitären Strenge spielten. Mir fiel ein Mann mittleren Alters auf, der bewegungslos dastand und mit seinem Handy die tanzende junge Frau neben sich filmte, die das zu bemerken schien und es geschehen ließ. Er trug eine Uniform, die ich nicht zuordnen konnte – allerdings bemerkte Flo seine SS-Mütze, die er wahlweise unter dem Ellenbogen einklemmte oder auf dem Kopf trug. Dass die Inszenierung des Nationalsozialismus im Unmöglichkeitsraum stattfindet, leuchtete mir ein. Dass es auf dem Spielplatz zu finden ist, lässt bei mir ein paar Fragen offen, auch wenn es spätestens seit Motörhead und Lemmy keine Neuheit mehr ist. Entweder es ist kein Spiel aber in dem Setting so unauffällig, weil es sich in die Kuriositäten der Nacht einreiht wie alles andere. Das ist in etwa so, als würde jemand etwas völlig Unangebrachtes sagen und alle gehen davon aus, dass es ein Witz gewesen sein muss. Oder es ist ein Spiel, eine Simulation, dann bleibt die Frage wovon? Macht und Herrschaft? Gewalt? Vierziger Jahre Ästhetik? Tabubruch, einfach um ein Tabu zu brechen? Simple Provokation?

Wenige Meter daneben tanzte ein weißblonder Mann, der seine Haare nach hinten frisiert hatte und eine Marine-Uniform trug. Sein Gesicht schien mir aus weißem Porzellan zu sein, ein Eindruck der sicherlich seine Vorbereitungszeit in der Maske gebraucht hatte.

Aber eine Frau vermittelte Anne und mir am eindrucksvollsten die Notwendigkeit unbedingten Gehorsams, als sie mit einem „ich verhandele nicht“-Blick an uns vorüberglitt, ihren schmalen Körper von der Halskrause bis zu ihren Hand- und Fußgelenken in die zweite Haut eines tiefschwarzen Lederkleides gehüllt. Es war nicht allein ihr zugeknöpftes, enggeschnürtes Kleid, die streng und fest zu einem Knoten hochgesteckten schwarzen Haare oder das kalkweiße Gesicht mit den kirschroten Lippen, dass uns beide zu der inneren Geständnispflicht bewegte, sondern es war ihr Ausdruck und ihr artistisches Talent; die zu einem dünnen, ernsten Strich gezogenen Lippen, die überaus aufrechte, geradezu korrekt anmutende Körperhaltung und der stechende Blick unter den viel zu langen Wimpern. Es war der Auftritt einer Künstlerin, die ihre Rolle beherrschte und die eine nahezu greifbare Aura der Absolutheit vor sich hertrug.

Ebenfalls zu sehen war das passende Puzzlestück auf der anderen Seite der Machtvollen und Gewaltigen: die devoten, sensiblen Püppchen und Toyboys, die Halsband oder Handschellen trugen, sich in kindlicher Manier die Haare in Zöpfe flochten, ihre zierliche Figur in Korsetts oder ihre weiten Körper in Netzhemden, zerschnittenen Shirts mit Faltenröckchen, Shorts oder einer pinken Latexwindel kleideten. Daran anknüpfend wurde die Geschichte der körperlichen Versehrtheit in Narben, Blut, offenen Wunden bis hin zur Romanze mit dem Tod oder dem Untot Sein erzählt. Es wurde in der Ausdruckskiste bekannter Horror- und Fantasyfilme gefischt und ohne eine Fassade zu eindeutig auszubuchstabieren wurden Kleidungs- oder Makeup-Zitate von Vampiren, Dämonen, Zombies oder anderweitig „unmenschlichen“ Wesen inszeniert. Die Akteure dieser Geschichte trugen beispielsweise vermeintlich blutige, zerrissene „halbe“ Shirts oder schwebten auf ihren 160 Millimeter-Absätzen und ihrem bodenlangen Samtkleid im Mairmaid Cut und dem 20 cm breiten, aufgestellten Spitzenkragen wie die Queen of the Damned vorüber, um für die nächsten 1,5 Stunden im Industrial Floor mit minimaler Bewegung an Ort und Stelle zu raven, hin und wieder einen eiskalten Blick über die Schulter werfend um ihr Publikum stechend anzuvisieren.

Anders als ich es von Partys ohne vergleichbares Motto kenne, trugen die Gäste ihre Outfits nicht einfach, wie jemand im Club ein Kleid, Jeans und T-Shirt oder sonst irgendeine dem Rahmen als angemessen empfundene Auswahl an Kleidungsstücken trägt, sondern vielmehr präsentierten sie ihr Kostüm und bespielten die damit verknüpfte Rolle mit dem Ausdrucksrepertoire, dass ihnen zur Verfügung stand.

Uns fiel außerdem auf, wie bunt gemischt das Publikum war. Wir sahen sowohl junge Männer, die gerade mal 20 Jahre alt sein dürften, sowie Senioren um die 70 Jahre. Wir sahen schlanke und korpulente Traumtänzer, extrovertierte Paradiesvögel und in sich gekehrte Party-Gurus in ihrem Element. Wir sahen alle Geschlechterinszenierungen und Geschlechtsüberschneidungen. Das SSM war in seinem sehr klar vorgegebenen Motto dennoch ein Pool der Vielfalt.

Fühlen

Subtiler, wenn auch sicherlich nicht weniger wirkungsvoll transportierten auch die anderen körperlichen Sinne das Rauschen des SSM. So bemerkte Anne plötzlich, dass die Party ihren ganz eigenen Geruch hatte. Und kaum hatte sie es angesprochen, bemerkte ich es auch. Es lag ein süßlich-metallener Geruch aus Teer, Rost, Öl, Staub und Parfüm in der Luft der Maschinenhalle. Er vermischte sich mit dem schweren Dunst der Nebelmaschine und wie auch immer ein Gothic Spielplatz riechen sollte, dies schien mir ziemlich passend zu sein.

Spürbar war auch die warme Luft der Zwischenräume, der vom Bass vibrierende Boden, die raue Oberfläche der zu Erdhöhlen geformten Badcave, das glatte kalte Metall des Treppengeländers, die Enge des Raumes auf der Tanzfläche, die Dichte zu den tanzenden Körpern auf dem Gothik Floor, die Weite und die kühle Distanz auf dem Industrial Floor und die pulsierende feuchte Wärme der Körper im Futurepop Floor. Auch ein Ganzkörper-Latexkostüm, ein mehr nackt als angezogen laufender Körper auf hohen Schuhen, ein glattes kaltes Lederjackett, schwere Gummisohlen oder ein zugeschnürtes Korsett wird den Rausch des Abends auf seine Weise fühlbar gemacht haben.

Fühlen konnten wir außerdem all das, was nicht sichtbar oder unmittelbar erkennbar ist. Spürbar war der Alkohol und für den ein oder anderen Partygast andere konsumierte Drogen, spürbar war ein verausgabter Körper nach dem Rave oder dem Moshpit, spürbar war die Euphorie der Party, die Konzentration und Versunkenheit bei einem in sich gekehrten Tanz oder dem Versuch den Lidstrich auf der Toilette nachzuziehen, die Ausgelassenheit und Verbundenheit der kleinen Gemeinschaften, die Formgebung von Aggression und Gewalt wo sie sein darf und kann, das knisternde Spiel aus Kontakt und Nicht-Kontakt, das Gefühl von Freiheit und Gleichheit von Artgenossen unter derselben Partykugel-Sonne. Und spürbar war die Müdigkeit, die irgendwann den Körper und seinen Besitzer daran erinnert, dass alles einmal zu Ende gehen muss, die Sehnsucht nach einer gemütlichen Schlafgelegenheit und bestenfalls einer charmanten Begleitung dorthin. Es bleibt diese Sehnsucht nach dem trauten Möglichkeitsraum, die den Gast des SSM früher oder später wieder aus den Tore des Spielplatzes hinaus lockt. Genug gespielt.

From Dusk till Dawn

Das Super Schwarze Mannheim war mit der Gesamtheit aller lauten Reize berauschend. Mein Eindruck war, mit welcher Frequenz von „Normalität“ auch immer ein Gast angekommen sein mag, das gebündelte Rauschen aller Impulse überlagert diese Frequenz und justiert sie, überrauscht an einer Stelle, was zu viel ist und an anderer Stelle fügt es hinzu, was noch fehlt, bis ein Gleichschwingen mit der Sorte von Spielplatz für den Besucher möglich wird, den er an diesem Ort gesucht hat. Die Resonanz von 3000 Gästen ist nicht deswegen gegeben, weil sie alle dasselbe Spiel, die selbe Fantasie mitgebracht haben, sondern weil das Rauschen es ermöglicht, aus ein und dem selben Ort 3000 Spielplätze zu machen.

So gesehen handelte es sich um einen fantastischen Raum, also einen Raum der Fantasie. Wie es David Morgan in seinem Beitrag „The sacred Gaze“ erklärt, wird hierzu das Materiale und Sichtbare zu einem Vermittler. Durch die Interaktion mit diesem Materialen, das Sehen der Location und der Menschen, das Hören der Musik, das Konsumieren der Getränke und der Atmosphäre, das Riechen der Fabrikhalle und der Nebelmaschine und das Spüren des vibrierenden Bodens oder der eigenen Kleidung, wird das Publikum zu einer Narration, einem Gefühl oder einer Sichtweise auf die Welt eingeladen. Wer dieser Einladung folgt und ob auch wirklich dasselbe darin gesehen oder gespürt wird, was ein anderer vorher darin eingeschrieben haben wollte, ist eine andere Frage.

Auch unser kleines Forschungsteam kam irgendwann an das Ende seiner Kräfte und damit seiner Expeditionslust. Nach einem letzten Drink an der Bar ließen wir unsere bürgerliche Kleidung an der Garderobe suchen und hüllten uns wieder in unsere Heimatrealitäten. Wir fanden unseren Weg aus dem Club und drei kichernde Gestalten der Nacht kehrten zurück in ihre Häuser. Get back to where you once belonged.

Aber wir kehrten als andere zurück. Wie es so schön heißt: Es kehrt von einer Reise niemals der selbe Mensch zurück, der einmal aufgebrochen ist. Wir waren überzeugt davon, jetzt mutiger zu sein, aufgeklärter und wissender, sich ein bisschen gelassener im eigenen Körper zu fühlen – egal wie wir schon aussahen, dort sahen Personen so viel „lauter“ aus, dass ein bisschen „over the edge“ gar nicht mehr so peinlich war. Die Konfrontation mit anderen Realitäten, anderen Geschichten, Spielangeboten und Andeutungen von Unmöglichkeitsräumen war nicht nur eine erstaunliche Reise, sondern lies uns schließlich auch auf die potenzielle Variation von Möglichkeitsräumen schließen. Das Spielen des Unmöglichen ist immer auch ein Üben des Möglichen. Die Beobachtung und das Erleben der Relativität der eigene Normalität machte freier. Wir hatten nicht nur eine Feldforschung durchgeführt, wir hatten auch unsere Comfort Zone erweitert. Denn jede überstandene Expedition in die Stretching Zone ist ein erobertes Land, dass von nun an unter der Flagge der Comfort Zone okkupiert und besessen wird.

Weiterführende Literatur:

Morgan, David (2005): „The sacred Gaze. Religious Visual Culture in Theory and Practice.”, Berkeley: University of California Press.

Bildquelle: http://morbid-eleganza.tumblr.com/post/146846899710