Die Akteur-Netzwerk-Theorie oder kurz ANT ist nicht nur inhaltlich, sondern auch politisch bedeutsam, da sie die Disziplin der Sozialwissenschaft neu definiert hat. Mit dieser Theorie ist in den 80er Jahren das bisherige Vorgehen der Soziologen infrage gestellt worden und eine alternative Betrachtungsweise und Aufgabendefinition entstanden. Einer der Gründungsväter, der französische Soziologe Bruno Latour, hat nichts weniger behauptet, als dass „sozial“ etwas ganz anderes sein könnte, als bisher in seinem Fach gehandhabt. Wurde „sozial“ zuvor als eine eigene Sphäre gedeutet, die parallel zur technischen, biologischen oder semiotischen Sphären existiert, erklärte Latour nun, dass „sozial“ lediglich der Hinweis auf eine Verknüpfung zwischen einzelnen technischen und biologischen Dingen sei.
Was sich hierdurch verändert, ist die Blickrichtung: Anstatt zu sagen eine Situation ist sozial und deshalb verhalten sich die Akteure (also Handelnde) entsprechen, fragt die ANT wie Akteure miteinander vernetzen sind und daraus ein Handeln entsteht, dass als sozial bezeichnet wird. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Verwendungen des Wortes „sozial“. Das liebevolle Verhalten der Mutter gegenüber ihres Kindes wird nicht mit dem Etikett „soziale Sphäre“ (neben der biologischen oder technischen) erklärt, sondern die biologische oder technische Interaktion der Mutter mit ihrem Kind, beispielsweise mit einer Umarmung, dem Zubereiten von Nahrung oder dem Zusenden einer Nachricht ist Zeichen ihrer sozialen Verbindung, ihr liebevolles Verhalten ist ein Hinweis auf ein Netzwerk.
Was Latour im nächsten Schritt macht, ist den Kreis der Zugehörigen einer sozialen Beziehung (eines Netzwerkes) zu erweitern. Was zuvor allein Mensch-Mensch-Beziehungen vorbehalten war, ergänzt er mit Mensch-Technik-Beziehungen. Hier ein Beispiel: Das Netzwerk zwischen Mutter und Kind wird ergänzt durch die Smartphones, die beide besitzen und die installierte Software von WhatsApp. Hinzu kommt die Kamera und der Hund in seinem Korb und die Universitätsbibliothek mit dem WLan Hotspot an der LMU in München. Wenn die Mutter nun ein Foto mit ihrem Handy von dem Hund macht, dieses Foto über WhatsApp mit der Unterschrift: „Knuffel und ich vermissen dich“ an ihre Tochter versendet, diese mithilfe des Wifis in der Münchner Universitätsbibliothek, wo sie über ein Buch geneigt sich den Kopf über die nächste Prüfung zerbricht, das Bild in der App öffnet und ein kurzes Schmunzeln über ihr Gesicht huscht, würde Latour das Netzwerk ihrer soziale Beziehung zum Beispiel folgendermaßen nachzeichnen: Mutter-Handy-Kamera-Hund-App-Internet-UB-Internet-Handy-App-Kind. Wer sich nun vor Augen hält, dass es vorher nur Mutter-Kind war, dem wird die Neuerung und Ergänzung dieser Idee deutlich.
Latour, Bruno (2010): „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie.“, Frankfurt am Main: Suhrkamp.