Im Wort steckt schon ein wichtiger Hinweis auf diese Frage: das Fundament, also die Basis oder der Boden, auf dem ein Haus oder eine Idee aufgebaut ist. Als Fundamentalisten werden solche Personen bezeichnet, die einer (oft als religiös bezeichneten) Gruppe angehören und für die in dieser Gruppe nur die absolute Basis, die allerersten Inhalte oder Praktiken zählen und die alles das ablehnen, was später darauf aufgebaut, das hinzugefügt wurde. Sie sind die Erhalter und Bewahrer der ersten Idee, die Lobby für die „unternehmerischen Selbsterhaltung“ im allerfrühsten Sinne, wie es die Religionswissenschaftlerin und Professorin an der Yale University, Kathryn Lofton beschreibt.
Am Beispiel von einer Weihnachtsbäckerei könnte man sagen: Diejenigen, die der Meinung sind das allererste Rezept für Vanillekipferln zu kennen und dieses genauso mit den gleichen Zutaten (bestenfalls noch immer vom selben Lieferanten) und in der gleichen Form herstellen, sind die Fundamentalisten der Vanillekipferl. Sie sind der Meinung die einzigen zu sein, die wissen, wie es wirklich geht und außerdem davon überzeugt, jeden einzelnen Keks zu 100 % genauso wie den allerersten Keks herzustellen. Während die Konkurrenz Vanillekipferl mit Schokoglasur, Dinkelmehl, fettreduziert oder kandierten Granatapfelkernen darauf herstellen, bleibt der fundamentalistische Vanillekipferl-Bäcker bei seinen Vanilleschoten, seiner Butter und seinem Weizenmehl Typ 550. Mit einer stoischen Ordnung verharrt er bei seinem Herstellungsverfahren. Den „neumodischen Kram“ bezeichnet er in einer dichotomischen Ordnung aus gut und schlecht ganz klar als schlecht, möglicherweise als überflüssig.
Das hört sich im Falle von Vanillekipferln unkompliziert an. Im Falle von religiösen Wahrheiten, Lebensführung, Rechtsprechung, moralischer Orientierung und Werten sehen sich Fundamentalisten häufig mit einem „sich unkontrolliert ausbreitenden Feind“ neuer Entwürfe von „Normal“ konfrontiert. Mit einer „resilienten Klarheit“ verneinen sie diese neuen Vorschläge und stellen ihnen eine absolute, dauerhafte und unveränderbare Autorität entgegen (So, und nur so gehen Vanillekipferl. So und nur so geht rechtes Leben im Sinne unseres Glaubens).
Warum ist das so anziehend? Weil sich Fundamentalismus so hervorragend konsumieren lässt. Er ist so allumfassend, so leicht zu verstehen, so vereinnahmend, so immersiv, so exzessiv, dass er seine Konsumenten in einen „religiöser Rausch“ versetzt. In einem so in sich abgeschlossenen System, in dem jeder Schritt ein Schritt ins Gewisse ist, steht der Vanillekipferl-Bäcker nie in der nächsten Wintersaison unentschlossen vor dem Rezeptbuch, unsicher ob er nun den weißen oder den braunen Zucker verwenden soll, die Margarine, das Trüffelöl oder die Butter. Sein Erfolg ist so einfach wie eindeutig. Seine Arbeit ist auf das Minimale zutiefst fokussiert.
Kleine Anekdote hinterher: Es ist dennoch nicht so, dass Fundamentalisten grundsätzliche anti-modern sind, ganz im Gegenteil. Im technischen Sinne, im popkulturell-ästhetischen Sinne, in der Marketingarbeit etc. können Fundis (wie mein Professor für Methodologie an der Uni Basel liebevoll seine Forschungsprobanden nannte) hochgradig modern sein. So präsentieren sie fundamentale Inhalte mit modernen Medien und im hippen Design. Das ist in etwa so, als würde unser Vanillekipferl-Bäcker sich im Laufe der Zeit eine Küchenmaschine, einen Hochleistungsofen, einen Graphikdesigner für die Verpackung seiner Schätze und einen Innenarchitekten für sein angebautes Café organisieren. Der Inhalt und die Form seine Kipferl bleiben dieselben.
Kathryn Lofton (2017): „Consuming Religion“, Chicago, London: University of Chicago Press, S. 17-33.