In seinem Beitrag „Spielräume“ schreibt Wolfgang Fach, (Professor für Politikwissenschaft an der Uni Leipzig) über das Regime folgenden Kommentar: „[D]ie Regierten regieren sich selbst und werden damit auch zu Regenten.“ Was er damit meint: Dass ein Regime, also ein Führungs- und Ordnungssystem, seine Herrschaft absichert, indem es dafür sorgt, dass sich die Regierten in ihrem Sinne beherrschen. Diese Idee erscheint vielleicht erstmal kompliziert oder völlig verrückt. Aber dahinter steckt mal wieder eine lehrreiche Lektion.
Zu aller erst brauchen wir hierfür eine Gruppe an Menschen, die sich auch als Gruppe versteht. Zum Beispiel könnte das ein Karnevalsverein sein. Diese Gruppe hat nun ein Regime, oder, was sich vielleicht erstmal weniger feudal und diktatorisch anhört, einen gewählten Vorstand. Dieser Vorstand vertritt und kontrolliert die Vereinsregeln, beschließt (in Absprache mit den Vereinsmitgliedern) das Motto des nächsten Umzugswagens, repräsentiert die Tradition des Vereins, vergibt Aufgaben und Ehrentitel an seine Mitglieder, kurz – er führt den Verein an. Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass der Vorstand dieses Karnevalsvereins bereits seit 15 Jahren in dieser Formation (wiedergewählt) besteht und dass eventuell sogar die Eltern- und Großelterngeneration ebenfalls ähnlich prominente Führungsrollen in dem Verein hatten. Warum nicht? Weil diese Personen so viel Übung in ihrer Aufgabe haben, sie über die Maße kompetent sind in dem, was sie tun? Möglicherweise. Und möglicherweise nicht nur.
Es gibt Strukturen, die den Erhalt des Karnevalsvereins und seines Vorstandes garantieren. In dem der Vorstand wichtige Aufgaben und ehrenvolle Titel an die besonders pünktlichen, zuverlässigen, beflissenen, an die besonders traditionsehrenden und linientreuen Vereinsmitglieder übergibt, schafft er ein Belohnungs- und Hierarchiesystem, dass mit Ruhm und Anerkennung entlohnt (mit symbolischen Kapital) und in dem die Mitglieder nun emporklettern möchten. Besonders gute Karten hat der Karnevalsverein deswegen, weil nun demjenigen Tänzer der Garde, der selbst die Regeln und Gewohnheiten des Vereins (die Norm) beherzigt, einen ehrenvollen Rang in der Tanztruppe zuteilwird. Nachdem er einen geliebten Platz in der Hierarchie ergattern konnte, kontrolliert jetzt sein wachsames Auge, dass seine ihm anvertraute Truppe ebenfalls diese Regeln befolgt. Er vergibt nun selbst ehrenvolle Titel, sei es eine prominente Tanzposition oder ein Lob vor versammelter Runde. Er regiert stellvertretend für seine Regierung (den Vorstand) und wird so selbst ein Stück des gesamten Regimes.
Um positiv vor ihrem Truppenleiter aufzufallen, führt seine Tanztruppe möglichst akkurat die erteilten Anweisungen durch und – tada! – beginnt, sich gegenseitig auf Regelverstöße hinzuweisen und zu ermahnen. Das Regime gibt Stückchen seiner Arbeit weiter an geeignete Stellvertreter und macht die gegenseitige Kontrolle zur Gewohnheit, bis sich die gesamte Gruppe selbst regiert im Sinne der Herrschaft. Die Vereinsmitglieder benehmen sich beherrscht, auch wenn sie sehr ausgelassen dabei tanzen und trinken. Sie verhalten sich, wie sie es sollen.
Wenn nun eine Tänzerin bei den Probe ständig „aus der Reihe fällt“, nicht geübt und das Kostüm verloren hat oder ihren Tanzchoreographen mit genervten Blick zu verstehen gibt, dass er ja keine Ahnung habe, dass er inkompetent sei, dann verliert sie die Selbstbeherrschung. Und zwar die Beherrschung des Regimes, die sie selbst stellvertretend ausübt. Sie ist keine Repräsentantin, keine Stellvertreterin der gelebten Norm des Vereins mehr und wird sicherlich keine „Ehren“-Funktion erhalten, vielleicht sogar ihre Position in der Tanzgarde verlieren.
Wenn wir jemanden begegnen, der offenbar die Selbstbeherrschung verloren hat, dürfen wir uns also fragen: zu welchem Regime gehörte denn die Beherrschung, die diese Person gerade hat sausen lassen?
Fach, Wolfgang (2008): „Spielräume?“ in Daniel Heschler und Axel Philipps (Hg.): „Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht.“, Bielefeld: transcript, S. 103-116.