Ugly, dead, sexy and satanic

Marilyn Manson und der Konsum
des Unmöglichkeitsraums.
Eine Momentaufnahme aus dem Feld.

„You say God, I say Say10“ lautet der Refrain des Songs „Say10“ auf dem im Juni 2017 erschienenen Album Heaven Upside Down. Say10 entspricht dem Wortlaut [’seıtn] (engl.: Satan), eine Figur über die Marilyn Manson (aka Brian Hugh Warner) im Interview mit dem Musikjournalisten Graham Hartmann für das Online-Magazine Loudwire sagte: „The guy that was God’s most beautiful angel and said, `You know what? F—k you, I can do better.´ Cast out of heaven. For me, the first ultimate rebel. So, I felt like that […].“

Die Rolle des Rebellen sowie des Satans ist eine relationale, sie ist eine Beziehungsangabe zu einem gegenüberliegenden Machtgefüge. Der Rebell entsteht erst mit der Herrschaft, gegen die er rebelliert. Satan als Figur z.B. der christlichen Bibel steht in einer existenzbedingenden Beziehung zu dem, was in der selben Quelle als Gott bezeichnet wird. Satan und der Rebell sind literaturwissenschaftlich gesehen klassische Antagonisten, Gegenspieler dessen was Norm, Wahrheit und Sinn bestimmt – dessen was mächtig und diskursbestimmend ist.

Mit seinen Songtexten über Gewalt, Sex und Drogen, seiner Aufforderung bei den MTV Music Awards 1997 sich nicht länger dem „Faschismus der Schönheit“ zu unterwerfen, seinen gender-überschreitenden Bühnenoutfits und seinem „Reverend“-Titel in der Church of Satan verortet sich Marilyn Manson genau dort: im relationalen Raum des Gegenspielers, der eine fixierte Wahrheit ebenso fixiert verneint. Marilyn Mansons Position ist nicht die Erweiterung des Möglichen, er positioniert sich im Anderen, im Unmöglichen. Er macht als Personifikation „besorgniserregender Möglichkeiten“ (Butler 2009: 50) für das Publikum verfügbar, was hier als der Unmöglichkeitsraum bezeichnet wird.

Seine Performance, das Spielen seiner Rolle, ist durch die Bühne deutlicher markiert, als sie ohne seine Verortung in der Popkultur wäre. Brian Hugh Warner spielt die Kunstfigur Marilyn Manson, die als Projektionsfläche für das Leben des Unmöglichen dem Publikum verfügbar macht, was es sonst nicht erleben kann, ohne den eigenen Subjektstatus als Teil einer sozialen Gruppe oder die eigene biologische Gesundheit zu gefährden. Marilyn Manson zuzusehen, wie er auf der Bühne das Andere performt, ermöglicht dem Publikum in einem Übertragungsprozess mit ihm das Andere zu konsumieren.

„Thank you for coming tonight and I don’t mean that in a sexual way … yet!“

Gleichzeitig sind die Grenzen dieses Spielens im Feld erkennbar. Wenn Marilyn Manson zu Beginn des Konzertes sich an seine 9000 Zuhörer richtet mit den Worten „Thank you for coming tonight and I don’t mean that in a sexual way … yet!“, ist nicht zu erwarten, dass es zu einem tatsächlichen sexuellen Erleben mit ihm oder im Setting des Velodroms Berlin kommen wird.

Das Spielen des Anderen ist auch in der Kleidung der Besucher erkennbar, die, so die Hypothese, adäquat zum Anlass gewählt wurde und zu dem, was das Publikum für den Rahmen eines Konzerts von Marilyn Manson als angemessen bewerten. So wie Marilyn Manson in einem schwarzen Federkleid auf der Bühne steht oder in türkisfarbigen Tutu und Strumpfhaltern Musikvideos dreht, markieren einige Gäste mit ihrer Kleidung ihre Zugehörigkeit zu einer Subkultur, die häufig als Gothik bezeichnet wird, wie etwa eine Konzertbesucherin, dessen Kleidung an Morticia Addams erinnert. Andere tragen Kleidungsstücke, die eine Geschlechterunterscheidungen infragestellt, oder im Gegenteil, eine sexuelle Identität explizit betont. Der Performance Marilyn Mansons folgend kleiden sich manche seine Fans so, wie er bei zahlreichen Gelegenheiten zu sehen ist und was er selbst als die Umsetzung seiner Aufforderung zur Hässlichkeit labelt.

Es ist nicht davon auszugehen, dass alle auf diese Weise zurecht gemachten Gäste tatsächlich den Wunsch haben, halbseitig blind, vernarbt oder blutig zu sein.

Einige Konzertgäste setzen sich, ähnlich wie es Marilyn Manson häufig auf Fotos und Videos tut, eine Kontaktlinse ein, mit der das entsprechende Auge blind oder pupillenlos aussieht. Sie tragen Make-Up, dass ebenso auf einer Halloween-Party zu finden wäre, wie etwa Narben, Kunstblut, eine kalk-weiße Gesichtsfarbe und über die Lippenkontur gezogene rote Farbe. Gleichzeitig ist nicht automatisch davon auszugehen, dass alle auf diese Weise zurecht gemachten Gäste tatsächlich den Wunsch haben, halbseitig blind, vernarbt oder blutig zu sein. Im Kontakt miteinander wird das gemeinsame Spiel erkennbar, etwa durch die Inszenierung von dramatischen Ausdruck im Moment der Selbstpräsentation und dem „Aus-der-Rolle-Fallen“ im Moment der sozialen Überforderung oder in einer vermeintlichen Situation ohne Publikum. So präsentiert ein Akteur seine milchig-weiße Pupille mit aufgerissenen Blick und grimmiger Miene seinem direkten Umfeld um anschließend in Gelächter auszubrechen und ein anderer schreitet mit einer hochgeknöpften Bluse unter einem Leder-Jackett, mit Zylinder und zwei in schwarze Spitze gekleideten jungen Damen mit hochtoupierten Haarknoten im Stile des ausgehenden 19. Jahrhunderts je an einem Arm eilig durch die Menge um sich an der Garderobe die Winterjacke abzuholen und den Pfand für den Plastikbierkrug zurückzuholen.

„If she has a pulse, she is not my type“

Es kann ebenso infrage gestellt werden, ob der Konzertgast mit der T-Shirt Aufschrift „If she has a pulse, she is not my type“ sich selbst als nekrophil verortet oder ob es ihm um das Spiel mit einer Phantasie geht, die ihren Ursprung ebenso gut in der Vampir-Romantik der Gegenwart haben könnte (ein Narrativ, dass Marilyn Manson beispielsweise mit dem Song „If I was your Vampire“ verwendet). Es kann aber auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass der Träger dieses Shirts sich schlicht als nekrophil versteht und der Meinung ist, den passenden Ort für die soziale Verkündung seiner Neigung gefunden hat.

Es ist allerdings durchaus zu erwarten, dass sich der Akteur deutlich im Unmöglichkeitsraum bewegen würde, sollte er versuchen, dieser Phantasie nachzukommen. Was Marilyn Manson sowie das Velodrom als Setting und die anderen Konzertgäste als Publikum gemeinsam herstellen ist etwas, das ich den Spielplatz nenne. Wenn George Bataille erklärt, der Sinn des Spielens ist das Erleben des Spiels, ist daraus abzuleiten, dass das Spiel und damit der Spielplatz ein Ort des Erlebens, des Konsums einer Erfahrung und des Performen dieser Erfahrung vor und mit anderen ist (Bataille 1951: 77).

Goffman schreibt auf den ersten Seiten seines Beitrags „Wir alle spielen Theater“: „Wenn der Einzelne eine Rolle spielt, fordert er damit seine Zuschauer auf, den Eindruck, den er bei ihnen hervorruft, ernst zu nehmen.“ (Goffman 2003: 19). Er mag in den meisten Fällen Recht damit haben. Auf dem Spielplatz hingegen gilt wohl eher was Huizinga erklärt: dass die Performance außerhalb des Spielplatzes „nicht-Ernst sei“, sondern vielmehr eine „Verwirklichung innerhalb jener eigenen durch das Spiel selbst geschaffenen Welt“ (Huizinga 1934: 21, 22). Durch dieses nicht-Ernst sein macht der Spielplatz den Konsum des Unmöglichkeitsraumes (des Anderen) für den Spieler möglich.

Literatur:
Bataille, Georges (1951): Spiel und Ernst, in: Knut Ebeling (Hrsg.): „Das Spielelement der Kultur“, Berlin 2014: Matthes & Seitz Berlin, S. 75-111.

Butler, Judith (2009): „Macht der Geschlechternormen und die Grenze des Menschlichen.“, Frankfurt: Suhrkamp.

Goffman, Erving (2003): „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“, München 1969: Piper.

Huizinga, Johan (1934): Das Spielelement in der Kultur, in: Knut Ebeling (Hrsg.), Berlin 2014: Matthes & Seitz Berlin, S. 18-45.